Im Schatten der Tosca
nicht, stets schob sich etwas anderes davor.
Zwischen dem zweiten und dem dritten Akt fühlte sie sich nicht mehr ganz so verkrampft, und es schien ihr, als sollte sie in Gedanken an sein Krankenbett eilen, wenigstens für einen Augenblick, und ihm dabei helfen, am Leben zu bleiben. Irgendetwas brauchte er von ihr, vielleicht auch nur, dass sie für ihn betete, so wie es Carlos gesagt hatte. Sie legte ihre Hände auf Fulvios Medaillon und murmelte das Ave Maria, immer wieder. Für Sekunden war es ihr, als stünde sie an Ferdinands Lager. Dort stand auch der Tod bereit. Mit großer Mühe riss sie die Augen auf, sie sprang hoch, hastete in der Garderobe hin und her, sie schlug sich an die Brust, sie ächzte und stöhnte, sie schüttelte die Hände, die Arme, das tat ihr gut. Als Carlos den Kopf zur Tür hereinstreckte, um nach ihr zu schauen, hatte sie sich wieder gefangen. Entschlossen und hart sagte sie: »Ja, dann bringen wir es hinter uns.« Es war ihr deutlich anzusehen, dass sie über Ferdinand nicht sprechen wollte.
Ferdinand lag im Sterben, das wusste Elia jetzt. Nichts gab es, absolut nichts, womit sie dem Freund hätte helfen können. Nun galt es, den letzten Akt durchzustehen. Elia wollte alle ihre Kräfte, ihr ganzes Wesen sammeln und konzentrieren, nicht die kleinste Unachtsamkeit durfte sie sich leisten. Hinter den Kulissen hörte Elia Carlos den Abschiedsgesang von Cavaradossi singen, so herzbewegend, so untröstlich traurig hatte es wohl noch nie geklungen.
»E lucevan le stelle
. .
. «,
in der magischen letzten Nacht in Ravello hatte Carlos vor dem verzweifelten Ausbruch innegehalten und schon da Elia zum Weinen gebracht. Aber Elia ließ sich nicht beirren, die große Schlussszene war so emotionsgeladen, dass es auf keinen Schöngesang ankam, auch Toscas Stimme geriet vor Rührung ins Wanken und wurde vor Aufregung schrill. Alles ging tatsächlich ohne Schwierigkeiten vonstatten, schließlich erteilte Tosca eifrig und eindringlich ihre Anweisungen, für die Zuhörenden klang es wie immer, sogar für Elias Ohren. Nur Carlos schoss es durch den Kopf: »Diesmal glaubt Tosca nicht daran, dass die Flucht gelingt.«
Auf der Bühne tauchten nun nach und nach die Männer des Erschießungskommandos auf, fast träge zunächst, lustlosverschlafen, es war noch früh am Morgen, was ging dieser Mann sie an? Doch dann, zum immer straffer werdenden Rhythmus des schaurigen Marsches, formierten sie sich zu einem militärisch geordneten Peloton. Zehn Gewehrläufe waren auf Cavaradossi gerichtet.
Elia hatte sich gut gewappnet, aber dann geschah alles sehr schnell. Schon bei den ersten schwankenden Klängen des Marsches kam es Elia vor, als löse sie sich auf, alles an ihr, in ihr, der Körper, die Knochen, das Herz, es zerfiel und zerschmolz, süßlich und grauenvoll, die Trommel wirbelte dazu, und die Posaunen des Jüngsten Gerichts schmetterten. Dann fielen die Schüsse: Ferdinand war tot! Doch wer da vor ihr lag, das war ihr Vater! Das Blut, ja, das Blut!
Wie eine riesige Welle brach die Erinnerung über sie herein:Oh ja, sie hatte viel gesehen, mehr als die Mutter: Die Schüsse hatten sie aus dem Schlaf aufgeschreckt, dann erschien Signor Barbaroli atemlos in der Küche, und während er und die Mutter noch aufgeregt diskutierten, war Elia aus dem Bett hochgefahren und zur vorderen Treppe gestürzt, sie hatte die beiden Verbrecher davonlaufen sehen, der Vater kauerte aufrecht hinter dem Steuer, überall lief ihm das Blut herunter, dann brach er vor ihren Augen zusammen. Sie hatte die Treppe hinunterrennen wollen und helfen, helfen, helfen! Aber ihre Füße waren wie festgenagelt gewesen, keinen einzigen Schritt konnte sie tun. Und dann war die Mutter gekommen.
Die Musik verebbte wie der Herzschlag eines Sterbenden, es war an Tosca, den Bann zu brechen. Elia war so mit der Rolle verwachsen, dass irgendetwas ihr Toscas Worte entriss, hinein in die rasenden Klangkaskaden. Und in panischem Entsetzten schrie es aus ihr heraus: »Mario, Mario!
Morto! Morto!
Tot! Tot!«
Elia brach über Carlos zusammen. Niemals hätte sie sich vor Toscas Schergen noch einmal aufraffen können, hätte ihr nicht Carlos den Befehl dazu ins Ohr gezischt und sie schließlich sogar weggestoßen. Und so torkelte sie noch einmal hoch und stürzte sich in die Tiefe, mit dem grässlichen Schrei eines wunden Raubtiers, nicht mehr mit Toscas noch im Todessprung wohlgesetzten Worten.
Toscas Sprung von der Bühne führte in Wirklichkeit kaum
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