Im Schatten der Tosca
sich, als sei sie von einer schweren Krankheit genesen: noch sehr wackelig auf den Beinen – aber über den Berg. Die Trauer umFerdinand war geblieben. Er war tot, sie fühlte es. Dennoch ließ sie sich von Carlos gerne Mut machen, die moderne Medizin bewirkte oft wahre Wunder. Endlich musste Carlos doch Björn anrufen, so war es ausgemacht. Und die arme, winzige Hoffnung zerbrach: »Gestern Nacht. Wahrscheinlich haben wir um diese Zeit noch Vorstellung gehabt.«
Erst jetzt erzählte Elia von ihrem unheimlichen Erlebnis während der ›Entführung‹ in München. »Kannst du dir das vorstellen, die beiden stehen doch in keiner Verbindung zueinander! Ich habe nach Ferdinands Unfall auch nicht an Papa gedacht, sonst wäre ich auf der Hut gewesen. Die beiden haben nichts miteinander zu tun«, regte sich Elia auf. Aber dann fügte sie zögernd hinzu: »Ein kleines bisschen haben sie sich sogar ähnlich gesehen, so vom Typ her, jetzt, wo ich es mir überlege. Und Flöte haben sie auch beide gespielt . . .« Darüber kamen Elia wieder die Tränen, doch das Weinen fühlte sich jetzt anders an. Doch dann rief sie plötzlich erschrocken aus: »Birgit! Ob sie es schon weiß? Ach Gott, sie und Ferdinand, die haben sich so gut verstanden!« Elia hatte nicht den Mut, nicht die Kraft, es ihr zu sagen: »Nachher, später, ich muss zu ihr hin.«
Aber Birgit wusste es schon durch Mariana, die war mit der ersten Maschine an diesem Morgen angekommen. Eigentlich hatte sie erst zu Elias letzter ›Tosca‹- Vorstellung nach Stockholm fahren wollen, doch nach einem Anruf von Björn wegen Ferdinands Unfall hatte sie sich Sorgen um Elia gemacht. Björn wunderte sich nicht, das hatte er längst geahnt: Mariana war eine Hexe und Elia ihre gelehrige Schülerin. Er war heilfroh, zusammen mit Mariana die Entscheidung fällen zu können, ob sie diese letzte Vorstellung überhaupt riskieren konnten.
Mariana sprach viele Stunden mit Elia, mütterlich-zärtlich, aber auch streng. Elia kamen immer wieder die Tränen, auch Marianas Stimme geriet öfters ins Schwanken. Diesmal ließ Mariana Elia kein Versteckspiel, kein sich Entziehen durchgehen.Elia musste ihr das grässliche Erlebnis vom Vortag noch einmal schildern, jedes Detail, ab wann und wie hatte es sich zusammengebraut, was hatte Elia gefühlt, gesehen?
Elia protestierte heftig: »Gerade fang ich an, mich wieder aufzurappeln, willst du mich jetzt in den Wahnsinn treiben?«
Doch Mariana blieb hart: »Wenn sich im Fußboden deines Hauses ein Loch auftut und du fällst hinein, dann deckst du auch nicht nur ein Brett drüber und denkst, es wird schon nicht wieder passieren. Sondern du schaust die Stelle genau an, auch alles drumherum, und überlegst, wie der Schaden entstand und wie du so etwas in Zukunft verhindern kannst. Kurzum, du reparierst die Sache von Grund auf. Also, packen wir es an! Du bist doch mutig, das weißt du, sonst könntest du nicht singen. Was riskierst du jetzt noch? Ich bin doch da, komm, komm, hab keine Angst!«
Angst, jawohl, darum ging es. Diese Angst, die lähmende Angst um den Vater. Damals. Und all die Jahre danach. Sie hatte Elia niemals verlassen. Wie die Kugeln in den Körper des Vaters, so war die Angst in Elias Herz eingeschlagen. Hatte sich dort eingenistet und in den unzugänglichsten Herzenswinkel verzogen, so dass Elia ihr nie auf die Schliche kommen konnte. Erst der Schock hatte sie gewaltsam aus ihrem Versteck herauskatapultiert. »Schau sie dir an, deine Angst, in aller Seelenruhe, endlich kannst du es. Brauchst du sie noch? Und wozu? Deinem Vater nützt sie nichts mehr«, sagte Mariana.
Nach einer langen Pause meinte Elia zögernd: »Ja, es ist gut, dass ich sie Aug in Auge zu sehen bekomme. Jetzt weiß ich endlich, was ich da immer und immer mit mir herumgeschleppt habe: diese tonnenschwere Angst!« Sie holte tief Luft und sagte in einem sehr energischen Ton: »Los, fort mit dir. Ab sofort hast du keine Macht mehr über mich!«
Plötzlich reagierte Elia genauso streng und unerbittlich wie Mariana. Denn auch sie wusste: In diesem Beruf konnte sie sich das Risiko solcher Katastropheneinbrüche nicht leisten.Sie musste sogar dankbar sein, dass eine dieser in ihrem Unterbewusstsein vergrabenen Bomben – vielleicht sogar die einzige oder doch die größte – auf eine gerade noch erträgliche Weise hochgegangen war.
»Du hast den Akt nicht geschmissen, und du hast den Verstand nicht verloren. So, und jetzt nimm dich zusammen«, meinte Mariana
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