Im Schatten der Tosca
Passierschein, für den Fall, dass man sie aufhalten und ihr Schwierigkeiten machen wollte. Sie fühlte sich wieder wohlgemut, wie in einer Verschwörerrolle.
Vorbei an marschierenden Soldaten, Staub aufwirbelnden Panzern, Gräben, Palisaden und schweren Geschützen, gekleidet in ihr elegantestes Reisekostüm, fuhr sie nach Rom. »Die Ratten betreten das sinkende Schiff. Ich hätte schwören können, dass du kommst«, begrüßte Pietro sie und nahm sie in die Arme.
Kurz vor der Rückreise kramte Mariana in ihren beiden mittlerweile zerschrammten Lederkoffern herum. »Weißt du was? Den einen Koffer lasse ich hier, die Züge sind jetzt immer so voll«, sagte sie zu Pietro. Dann klopfte sie einen Nagel in die Wand und hängte ihr Seestück zwischen die anderen Bilder: »So, jetzt hat es seinen festen Platz. Da gehört es hin.« Pietro nickte stumm. Was sollten sie nur machen?
Vor dem Bahnhof wurden Flugblätter verteilt: »Italien erklärt Deutschland den Krieg.« Diesmal, das wussten Mariana und Pietro, war es kein normaler Abschied, so wie sie es sich drei Jahre zuvor auf dem Stockholmer Flugplatz noch hatten vormachen können. Rom und Stockholm. Und dazwischen nichts als Krieg.
»Hast du noch deinen schwedischen Pass?«, fragte Pietro. Mariana nickte: »Und meinen Opern-Passierschein: In dringender Mission. Es ist nicht übertrieben. Ich fahre durch bisnach Stockholm. Schau dich schon mal um nach einer Wohnung. Wenn dieser wahnsinnige Krieg irgendwann vorbei ist, kommt Massimo wahrscheinlich bereits in die Schule. In Rom, wo sonst?«
Fast auf den Tag genau, im Herbst 1945, sahen sie sich wieder. Diesmal war es Pietro, der die weite Reise antrat, in einem der ersten Züge, die von Rom wieder über den Apennin krochen. Das propere, so gänzlich intakte Stockholm wirkte auf ihn wie eine Fata Morgana. So viel Zerstörungen, Verletzungen und Trümmer hatte er auf seiner langen Fahrt gesehen, sogar die Wälder und Felder bluteten aus Wunden, die der Krieg ihnen geschlagen hatte. Nicht nur in den Städten, auch über den wechselnden Landschaften hing noch der Brandgeruch.
»Bleibt noch ein Weilchen auf eurer Insel der Seligen«, riet Pietro, aber Mariana widersprach ihm: »Nein, nein, wir waren lange genug getrennt. Von jetzt an bleiben wir drei beieinander.« Nichts konnte sie davon abhalten, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Bereits auf der Rückreise wurde Pietro von Frau und Sohn begleitet.
Noch bei der Abfahrt nach Rom hatte Mariana geglaubt, sie könne nichts mehr erschüttern. Dann aber ratterte der Zug durch eine nicht enden wollende Trümmerwüste, Kilometer um Kilometer nichts als Ruinen, jedwedes Leben schien hier erloschen, es sah aus wie nach dem Ende der Welt. Nur etwas war noch am Leben, es irrte durch die Trümmer, hallte nach als endlos gebrochenes Echo: die Schreie der Geschöpfe, der Menschen, Pflanzen, Tiere, die dort zu Schaden gekommen waren und vielleicht noch jetzt unter den Trümmern ihrer geborstenen Häuser begraben lagen.
Mariana starrte durch die schmutzigen Fensterscheiben, sie schloss die Augen, aber es war zu spät: Die lautlosen Klagen waren schon zu ihr durchgedrungen, nicht fordernd, nicht bedrängend, nur ein stummes, schüchternes Flüstern, ein scheues: »Denk an uns. Auf dass wir endlich Ruhe finden.«Brennendes Mitgefühl durchströmte Marianas Gemüt, glühende Liebe, der Schweiß brach ihr aus, sie merkte es nicht. Irgendwann spürte sie Massimos kleine Hand. Nach einer langen Stille brach Pietro endlich den Bann: »Also gut, jetzt haben wir Berlin hinter uns. Schauen wir mal nach, was uns die Oma auf unsere Vesperbrote getan hat.«
In Rom waren zu den unzähligen historischen Trümmern nur wenige neue hinzugekommen. Endlich war der Spuk vorbei. Dankbar und unternehmungslustig genossen die Römer den milden, friedvollen Herbst. Vielleicht knurrte ihnen manchmal der Magen, aber das kam eben ab und zu vor im Laufe der Jahrtausende, damit hatten sie umzugehen gelernt, die heimische Küche verstand sich aufs Zaubern in mageren Zeiten, mit Geduld und Strategie schmurgelte stets etwas in den Töpfen. Auch der Anblick fremder Soldaten in den eigenen Mauern schreckte schon lange nicht mehr. Gerade noch waren die Deutschen durch die Stadt stolziert, jetzt schlenderten Amerikaner umher und klebten Kaugummi unter Tische und Bänke. Barbaren, allesamt, nicht der Aufregung wert. Aber es machte Spaß, sie nach besten Kräften zu schröpfen. Gerade die arglosen Amerikaner eigneten
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