Im Schatten von Notre Dame
aufgebrummt.
Was in der Seine trieb, waren keine Baumstämme, auch wenn es auf den ersten Blick so aussah. Je heller es wurde, desto deutlicher erkannte ich Kleider, Arme, Beine und Gesichter. Tote!
Drüben am anderen Ufer räumten Soldaten den Domplatz und die Gassen rund um Notre-Dame auf, befreiten sie von den gefallenen Gaunern, die sie zum Fluss schleppten und achtlos ins Wasser warfen. Das ging schneller, als sie mühsam zum Friedhof zu karren und zu verscharren.
Viele Leichen lagen noch vor Notre-Dame, und die Aasvögel fanden reichlich Beute. Der König der Gauner blieb im Tod mit den Seinen vereint. Das Geschoß einer Arkebuse hatte seinen Bauch aufgerissen, und gleich mehrere Krähen taten sich an den hervorquellenden Eingeweiden gütlich. Die weiße Peitsche in der Hand des Gefallenen konnte sie nicht erschrecken, Clopin Trouillefou würde die Riemen nie wieder knallen lassen.
Einige Tote, die vor dem Hauptportal lagen, blieben von den Vögeln unbehelligt. Die Leichen waren mit dem Blei überzogen, das auf der Treppe und um sie herum eine unförmige, metallisch schimmernde Masse bildete. Ein erstarrter See, der seine Ertrunkenen mit bleiernen Armen festhielt.
Es war schrecklich gewesen, Zeuge des Abschlachtens zu sein, fast noch schrecklicher aber war es, im kalten Morgenlicht das Ergebnis zu betrachten. Die Kathedrale ähnelte einem riesigen bleichen Skelett, die Strebebögen waren abstehende Knochen. Plötzlich ging hinter Notre-Dame die Sonne auf und tauchte das Gebäude in kräftiges rotes Licht, das aussah wie Feuer. Jeder einzelne Stein brannte in diesem Feuer, das mir als göttliche Strafe für die Sünden der Nacht erschien.
Die Portale standen offen, und ich lief in die Kirche, um den Toten zu entfliehen. Ich erstieg die Wendeltreppe im Nordturm und wurde, kaum war ich oben angelangt, von kräftigen Händen gepackt. Als hätte er mir aufgelauert, war Quasimodo, in ein paar achtlos überge-worfene Lumpen gehüllt, aus einem dunklen Winkel gesprungen und schüttelte mich wie ein hungriger Vagabund einen Birnenbaum. Immer wieder grunzte er: »Wo ist sie?«
Ich führte ihn hinaus auf die Plattform, zeigte über den Fluss zum Grève-Platz. Langsam und deutlich, damit er mich verstand, sagte ich:
»Sieh zum Galgengerüst. Erkennst du ihr weißes Kleid?«
Lange stand er mit vorgeneigtem Oberkörper und schief gelegtem Haupt starr an der Brüstung und blinzelte ins junge Sonnenlicht. Ich war auf einen Tobsuchtsanfall vorbereitet, darauf, daß er mich in seiner Wut packte und in den Abgrund schleuderte, wie er es gestern mit Jehan Frollo getan hatte. Deshalb hielt ich einigen Abstand zu ihm.
Doch als er sich mit einem tiefen Seufzer umdrehte, lag kein Zorn in seinen Zügen. Nur unendliche Traurigkeit. Obschon er sich nie berech-tigte Hoffnungen auf Sita hatte machen können, schien er den Verlust tiefer zu empfinden als ich. Tränen rannen über sein Gesicht, als er an mir vorbei zum Südturm hinkte. Vergebens suchte ich nach tröstenden Worten und sah schließlich schweigend zu, wie er in der Glockenstube verschwand.
Kurz darauf setzte ein dröhnendes Läuten ein, und die Soldaten auf dem Vorplatz blickten erstaunt an der Fassade hoch. Als ich zu ihnen hinabsah, bemerkte ich, daß Jehan Frollo noch auf dem Mauervorsprung lag, rücklings, mit großen schwarzen Augen. Nein, es waren keine Augen, sondern die leeren Höhlen. Die Krähen hatten sich einen Leckerbissen gegönnt und dabei für göttliche Gerechtigkeit gesorgt: Den jungen Frollo hatte das Schicksal getroffen, das er Quasimodo zugedacht hatte.
Das Geläut wurde lauter und immer lauter, bis die Plattform zwischen den Türmen vibrierte. Das mußte die Große Marie sein, die nur an ganz besonderen Feiertagen geläutet wurde oder in Stunden der Not. Ich lief in die Glockenstube des Südturms und fand meine Vermutung bestätigt.
Quasimodo vollbrachte allein, was sonst nur ein Dutzend Männer schaffte. Er läutete die Große Marie mit solcher Gewalt, daß sie aus ihrer Halterung zu fliegen drohte. Der Glockenstuhl erbebte, erzitterte, schien zu schwanken. Unablässig schwang die schwere Bronzeglocke hin und her – und ihr Glöckner kauerte auf ihr!
Mit Armen und Beinen hielt Quasimodo die Glocke umklammert wie ein Liebender in höchster Leidenschaft seine Braut. So tanzte er mit seiner Marie, spürte ihre Vibrationen, die zu den seinen wurden, brüllte und jauchzte mit weit aufgerissenem Mund, daß ich es nur für höchste Lust halten
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