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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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auswärtige Händler, das Wetter ist schlecht und die Tage zum Reisen sind kurz. Entsprechend dürftig sind die Einnahmen der Mönche gerade in diesem Jahr gewesen. Deshalb konnten sie Ludwig erweichen, und nun dürfen sie im Sommer einen zweiten Markt abhalten. Er beginnt in fünf Tagen. Und wir werden dort sein!«
    Mit aller Kraft, die in dem ausgemergelten, krankheitsgeschüttelten Leib noch steckte, hieb er seine geballte Rechte auf den Tisch, mitten auf das Papier mit dem verhängnisvollen Schriftzug.
    Nach der Unterredung verabschiedete sich Mathias, um in sein Lager zurückzukehren und seine Leute auf den großen Schlag in fünf Tagen vorzubereiten. Djali zog er an einer Leine mit sich. Eine eher unwürdige Behandlung für die mögliche Retterin der Welt, wie ich fand. Die drei Italiener zogen sich zurück, um, wie Leonardo es ausdrückte, ›ein paar kleine Spielereien auszutüfteln, die uns im Tempel der Isis vielleicht hilfreich sein können‹.
    Mir war es ganz recht, daß ich allein mit Villon zurückblieb. So konnte ich ihm ungestört von Quasimodo und seinem Brandmal berichten.
    Mein Vater hockte auf einem dreibeinigen Schemel, den Rücken gegen den Tisch mit dem Holzschnitt gelehnt, und hörte mir scheinbar teilnahmslos zu. Seine Augen waren geschlossen, als schlafe er. Nur das feine Zittern der Lider und das kaum merkliche Heben und Senken des Brustkorbs verrieten, daß noch Leben in ihm war. War er erschöpft, oder lauschte er ergriffen meinem Bericht?
    Als ich mit Quasimodos Flucht aus Notre-Dame geendet hatte, herrschte für eine kleine Ewigkeit Schweigen. Fast war ich versucht, ihn anzustoßen, um herauszufinden, ob er nicht tatsächlich eingeschlafen war, da schlug er die Augen auf und sagte in seinem eigenartig wispern-den Tonfal : »Ich glaube nicht an eine Laune des Schicksals. Habt Ihr Euch bei dem Muschelzeichen ganz sicher nicht getäuscht, Armand?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Es sah genauso aus wie das Ding auf meiner linken Arschbacke.«
    »Das kann kein Zufall sein, nein!« Er stieß einen tiefen Seufzer aus und spuckte rötlichen Schleim. »Vielleicht hat Eure Mutter es nicht ge-wußt, aber eine unsichtbare Macht muß sie geleitet haben, als sie ihr Kind, Euren Bruder, ausgerechnet vor Notre-Dame aussetzte.«
    »Die Macht des Sonnensteins?«
    Villon nickte müde. »Alles entspringt einer Quelle, und alles fließt wieder zusammen.«
    »Oder auch nicht«, murrte ich. »Ich glaube kaum, daß wir Quasimodo wieder sehen.«
    »Das Schicksal gab Euch den Bruder, um ihn Euch gleich wieder zu nehmen. Mir aber hat es den zweiten Sohn ganz verwehrt.«
    »Mir kommen die Tränen«, raunzte ich. »Wir müssen Quasimodo suchen!«

    Villon runzelte die Stirn, was Falten über die zahlreichen Narben warf, und fragte: »Wozu?«
    »Wozu?« Ich konnte es kaum fassen. »Wir müssen ihn finden, ihm zeigen, daß er einen Vater und einen Bruder hat, ihm das geben, was ihm bislang vorenthalten war.«
    »Eine Eiche, die einmal verwachsen ist, könnt Ihr nicht geradebie-gen.«
    »Quasimodo ist ein Mensch!«
    »Der sein Schicksal selbst gewählt hat, als er Notre-Dame verließ.«
    Mein Unverständnis wuchs sich zu regelrechtem Zorn aus, und ich schrie: »Ist Euch gleichgültig, was mit Eurem Sohn geschieht?«
    »Wir haben keine Zeit, uns um Quasimodo zu kümmern. Was zählt ein Mensch, wenn die ganze Menschheit bedroht ist?«
    »Vielleicht ginge es der Menschheit besser, wenn sie des einzelnen Menschen mehr achtete«, schnaubte ich und sah im Geiste Quasimodo vor mir, wie er traurig auf der Turmgalerie von Notre-Dame hockte. Und Sita, wie sie leblos am Galgen der Grève hing.
    »Die Seligkeit aller wiegt schwerer als die eines einzelnen!« sagte Villon mit Überzeugung.
    »Wenn der einzelne leidet, können niemals alle selig sein!« widersprach ich ebenso entschieden. Ich stand vor ihm und hatte die Arme nach ihm ausgestreckt, ohne zu wissen, ob ich ihn aufrütteln, ihn vor Zorn erwürgen oder ihn um Verständnis für seinen missgestalteten Sohn anflehen wollte.
    Er umfasste mit beiden Händen meine Rechte und drückte sie. Seine Hände fühlten sich kalt und knochig an wie die des Todes. »Ich verstehe Eure Erregung, Armand. Ihr solltet Euch ausruhen, dann werdet Ihr einsehen, wie recht ich habe.«
    Aber ich wollte das nicht einsehen. Deshalb suchte ich den großen Raum auf, in dem ich die Kleider gewechselt hatte, als ich zum ersten Mal im Refugium der Katharer war. In der unterirdischen Schenke fügte ich dem

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