Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
schreibt auch, sie können an kaum etwas denken als an Miguel, und der Vater muss jeden Tag zum Präsidenten, um zumindest das Schlimmste zu verhindern.«
»Sicher hast du recht.« Die Mutter zog sie an sich. »Nun werden also wir dieses Fest allein auf die Beine stellen müssen, ohne Benito und ohne Josefa. Ach Liebes, ich wünschte, wir könnten es einfach absagen.«
»Können wir das denn nicht?«
Die Mutter schüttelte den Kopf. »In dem Vierteljahrhundert, in dem die Familie Alvarez hier Kaffee anbaut, hat es in jedem Herbst ein Fest für die Pflücker gegeben. Es abzusagen wäre, als würden wir vor Felipe Sanchez Torrija, der nebenan Gräben für sein Herrenhaus aushebt, unsere Kapitulation erklären. Außerdem wäre mir ein bisschen zumute, als würden wir damit die alten Götter erzürnen, die womöglich irgendwo in den Bergen lauern. Sie haben uns aufs Neue eine gute Ernte geschickt, und uns ist das nicht einmal ein Fest wert?«
»Kommt es dir auch manchmal so vor«, fragte Anavera, »als würden die alten Götter noch immer in den Bergen schlafen?«
Jetzt klang das Lachen der Mutter nicht mehr falsch, sondern voller Wärme. »Dein Vater hat einmal zu mir gesagt: Was soll mit den Göttern, an die keiner mehr glaubt, denn geschehen? Nach all dem Aufwand, der mit ihnen getrieben wurde, können sie doch nicht einfach verschwinden.«
Der Satz prägte sich Anavera ins Gedächtnis. Wenn sie in den klaren Nächten nicht schlafen konnte, setzte sie sich ans Fenster, sah hinauf zu den steinernen Gipfeln und dachte an die Götter, die dort von vergangener Größe träumten. Auch in der Nacht, die dem Kaffeepflückerfest vorausging. Auf einmal kamen ihr die Götter in den Felsen so machtvoll vor, dass sie sie gern gebeten hätte, über sie alle zu wachen. Über die Menschen von El Manzanal, deren vertraute Welt bedroht war, während nebenan ihr Feind sich sein Lager baute, und über die, die ihnen fehlten, über den Vater und Josefa, deren Schweigen sich so falsch anfühlte, über Tomás, dessen mitfühlendes Herz viel zu sehr unter alledem litt, und über Miguel, der Abelinda versprochen hatte, hier zu sein, wenn ihr Kind geboren wurde.
Als sie den Schrei hörte, der die Stille zerschnitt, wusste sie, dass Miguel sein Versprechen brechen würde. Das Kind kam in dieser Nacht, und sein Vater saß in einer Gefängniszelle und wusste nichts davon. Zu den Göttern, die in den Felsen hausten, ließ sich nicht beten wie zu dem christlichen Gott, mit dem Anavera aufgewachsen war. Diese Götter forderten das Blut ihrer Untertanen als Opfer, und jetzt, da sie keines mehr bekamen, mochte ihr Zorn unbezähmbar sein.
Der zweite Schrei zog sich in die Länge, bis er auf der Spitze zerbrach. Im Nu war Anavera aus dem Bett gesprungen und warf sich ihren Morgenrock über. Mit morbiden Grübeleien über Götter war Abelinda nicht geholfen. Unzählige Frauen hatten ihre Kinder ohne die Nähe ihrer Männer zur Welt gebracht, und Abelinda war schließlich nicht allein. Die Frauen von El Manzanal würden ihr beistehen. Und wenn Miguel aus der Hölle seiner Gefangenschaft heimkam, würden seine Frau und sein Kind ihn erwarten.
Auf bloßen Füßen, den Morgenrock um sich geschlungen, lief sie über den Hof zum Anbau, den die Männer für Miguels junge Familie errichtet hatten. Über die Schulter blickte sie zurück und musste flüchtig schmunzeln. Auf dem flachen Dach brannte noch eine Laterne, dort, wo ihr Bruder sein Teleskop in den Himmel richtete, um dessen nächtliche Geheimnisse zu ergründen. Solange sie denken konnte, war Vicente fasziniert von den Gestirnen. Würde er überhaupt hierbleiben oder nach Abschluss der Schule in eine der Städte gehen wollen, um bei bedeutenden Wissenschaftlern zu studieren? Wer würde noch hier sein, wenn sie selbst ihr erstes Kind zur Welt brachte? Etwas Heiliges lag um die Geburt eines Kindes, etwas von Weihnacht, auch wenn es erst Anfang November war und die Umstände anders als erwünscht.
Die Wärme, die der Gedanke ihr geschenkt hatte, war gleich darauf verflogen. Als sie die Tür zu Abelindas Schlafzimmer aufriss, sah sie als Erstes Carmen auf dem Bett sitzen, und als diese sich zu ihr umdrehte, wusste sie, dass nichts Heiliges um diese Geburt lag. Das Gesicht der Tante, die bereits so viel Leid ertragen und ihr Enkelkind innig ersehnt hatte, war grau. »Anavera«, sagte sie tonlos. »Das ist gut, dass du kommst.«
Von der Seite des Bettes erhob sich Xochitl, und Anavera sah, dass
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