Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
nahm der anderen Frau den Armreifen aus der Hand und schob ihn ihr in die Rockfalten. »Verbergen Sie das gut, und verkaufen Sie es, ehe man es Ihnen abnimmt«, sagte er auf Nahuatl zu ihr. »Auf dem La Merced Markt bekommen Sie Geld genug für ein trockenes Zimmer in einer Vecindada dafür.«
Knicksend und Kreuze schlagend gingen die Frauen rückwärts, bis sie wieder in den Zug eintauchten. Die Polizisten murrten zwar vor sich hin, zogen aber ebenfalls ab. Erst jetzt bemerkte Josefa, wie schwach ihr im Magen war und wie die Knie ihr zitterten. Sie schwankte, und hätte Tomás sie nicht gestützt, wäre sie gestürzt.
»Weißt du was?«, fragte er und strich ihr behutsam eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Nicht nur deine Mutter ist eine prachtvolle Frau. Du bist auch eine. Eine Frau wie du ist tausendmal zu schade für ein Scheusal wie Jaime Sanchez Torrija.«
»O Tomás, wie können sie denn das nur tun? Sie haben auf diesen Jungen geschossen!«
»Sie tun das, weil es ihnen so beigebracht wird«, sagte Tomás, aber seine Stimme klang jetzt kein bisschen grob, und er hörte nicht auf, sie zu streicheln. »Jaime Sanchez Torrija verlangt überall nach einer Verschärfung der polizeilichen Überwachung. Wer beim Stehlen erwischt wird, soll ohne Federlesens niedergeschossen werden.«
Sie wollte auffahren, das dürfe nicht wahr sein, doch sein Blick versicherte ihr, dass es so war, wie er sagte. Tränen traten ihr in die Augen und verschleierten die Sicht auf den hässlichen Platz, den Zug mit dem Sarg und auf Tomás’ Gesicht. Er streichelte sie noch einmal, dann nahm er sie fest beim Arm. »Komm nach Hause, Josefita. Du hast genug durchgestanden, und du hast dich wie eine Berglöwin geschlagen.«
Wie sie den Weg zurück in das helle, saubere, sichere Palais schaffte, wusste sie nicht. »Ich verspreche es«, sagte sie zu Tomás, als der Duft des frisch gewässerten Laubes und des Eukalyptus aus der Alameda den erstickenden Gestank in ihr auslöschte. »Ich werde Jaime Sanchez Torrija nie mehr treffen.« Sie meinte, was sie sagte. Sie würde dem Mann nie wieder in die goldenen Augen sehen können, ohne dass alles vor ihr aufstieg, was sie an diesem Tag erlebt hatte.
»Das weiß ich«, erwiderte Tomás liebevoll. »Du bist keine, die über Leid hinwegsieht und mit denen paktiert, die es verursachen. Du bist alles andere als das.«
»Aber ich habe doch …«
»Scht«, machte Tomás und legte den Arm um ihre Schultern. »Ich vertraue dir, ich weiß, dass du ein für alle Mal von diesem Kerl geheilt bist. Willst du, dass ich es dir beweise?«
Josefa nickte.
»Der Geist des Pinsels – soll ich dir sagen, wer das ist? Niemand weiß es, aber du sollst es wissen, damit du mir glaubst, dass ich dir vertraue. Ich bin es, Josefa. Hätte ich dir das gesagt, wenn ich befürchten müsste, dass du damit zu Sanchez Torrija läufst?«
Sie wusste nichts zu antworten. Seine Mitteilung war so überwältigend und zog so vieles nach sich, dass sie sie, ausgelaugt, wie sie war, kaum erfassen konnte. Nur dass er sich in ihre Hände gab, begriff sie. Und dass sie ein solches Vertrauen nicht verdiente. Erleichtert sah sie, wie zwischen den hohen Palmen der Alameda die Fassade des Palais hindurchschimmerte. Sie hätte rennen wollen, aber ihre Beine fanden nicht die Kraft dazu.
Im Palais war Martina, ihr beruhigendes Gesäusel, jede Menge warmes, nach Orangenöl duftendes Wasser, flauschige Decken und irgendein bitteres Getränk aus heiß gemachtem Mezcal. Josefa fror, als würde ihr im Leben nicht mehr warm, und sie weinte, als könnte sie nicht mehr damit aufhören. Irgendwann war alles wund, Augen, Nase und Kehle. Sie wollte schlafen, war aber überwach und hätte es nicht ertragen, allein zu sein. Martina und Tomás blieben bei ihr, bis es Nacht wurde und ihr Vater kam, abgehetzt und zerzaust, als wäre er den ganzen Weg gerannt. Er schloss sie in die Arme, und die gewaltige Woge des Weinens bäumte sich noch einmal auf. Von den hastigen Worten, in denen Tomás ihm erzählte, was geschehen war, verstand sie kaum eines.
»Ich habe meinen Armreif nicht mehr«, schluchzte sie, sobald die Tränenflut es ihr erlaubte. »Den Goldreif, Tahtli, den du mir zur Taufe geschenkt hast.«
»Das weiß ich«, sagte er und streichelte ihr verweintes Gesicht. »Ich kaufe dir einen neuen, einen viel schöneren, weil ich vor Stolz auf dich platze.«
»Ich schäme mich so«, brach es aus ihr heraus. »Tomás hat mir immer wieder gesagt, dass
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