Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
dir umspringen! Kannst du dich denn gar nicht zur Wehr setzen?«
»Das Beste wäre, sie würde mal einen richtigen Schreck bekommen«, sagte Ryan. »Stell dir vor, sie käme nachher zu ihrem Auto zurück, und ich wäre wirklich weg. Sie stünde da und sähe, dass sie bekommen hat, was sie wollte. Ich glaube, sie würde endlich zur Besinnung kommen. Das Dumme ist nur, ich weiß wirklich nicht, wohin. So für zwei Tage oder so. Dann würde ich natürlich zu ihr zurückkehren, aber ich glaube, dann hätte sich manches zwischen uns geändert.«
Er hatte Glück. Harry biss an. »Warum kommst du nicht mit zu mir? Ich wohne hier ganz in der Nähe, und ich habe nichts vor dieses Wochenende.«
Harry hatte vermutlich höchst selten etwas vor, dachte Ryan.
Er zögerte. »Ich will niemandem zur Last fallen …«
»Aber du fällst mir kein bisschen zur Last«, versicherte Harry. Er deutete auf die Bretter in seinem Einkaufswagen. »Ich will heute Nachmittag ein Regal für meine Praxis zusammenbauen. Das sind eigentlich Bretter für den Garten, aber richtige Regale kann ich mir im Moment nicht leisten. Du könntest mir helfen, wenn du magst.«
»Klar! Gerne!«, sagte Ryan sofort.
»Und vorher essen wir schön zusammen zu Mittag«, schlug Harry vor, ohne zu wissen, dass es Ryan bei diesen Worten wieder schwindelig wurde. »Ich habe noch Hühnerfrikassee von gestern Abend daheim. Isst du das gerne?«
Ryan hasste Hühnerfrikassee, aber er hatte solchen Hunger, dass für den Moment seine Vorlieben und Abneigungen keine Rolle spielten.
»Super«, sagte er daher. »Ich bin ganz schön hungrig, muss ich gestehen.«
»Dann nichts wie los!« Harry strahlte, weil er völlig unerwarteterweise eine Möglichkeit geboten bekam, einem trostlosen und leeren Wochenende, das ihn wieder einmal auf sein ewiges Scheitern hingewiesen hätte, zu entgehen.
Ryan wusste, dass er sich auf keinen Fall zu lange bei Harry einnisten durfte. Der junge Mann schien ziemlich isoliert zu leben, aber trotzdem bestand die Möglichkeit, dass es zu irgendeinem Kontakt mit seinen früheren Kollegen aus dem Krankenhaus kam, und dort wusste man vielleicht schon, dass Ryan auf der Flucht war und von der Polizei gesucht wurde. Außerdem konnte natürlich jeden Moment im Fernsehen, Radio oder in der Zeitung davon berichtet werden. Aber wenn er nur bis Montagfrüh bliebe, bedeutete das doch schon, dass er für zwei Nächte von der Straße weg war, dass er ein Bett oder ein Sofa zur Verfügung hatte anstelle einer Parkbank. Er bekam etwas zu essen und konnte duschen und vielleicht sogar seine Kleidungsstücke waschen.
Er lächelte. »Danke, Harry!«
»Wir Männer müssen schließlich zusammenhalten«, sagte Harry.
6
Debbie und Nora erreichten Camrose gegen halb drei an diesem Samstagnachmittag. Es hatte zu regnen begonnen, und inzwischen goss es in Strömen. Angesichts dessen, was sie vorhatten, waren sie in ohnehin ziemlich düsterer Stimmung, und Nora dachte, dass Sonne und blauer Himmel nun wirklich notwendig gewesen wären, ihre Gemüter ein klein wenig aufzuhellen. Andererseits bot das schlechte Wetter auch einen erheblichen Vorteil. An einem sonnigen Samstag im Juni wären Wanderer, Ausflügler, Fahrradfahrer und Camper unterwegs gewesen, und die Frauen hätten Angst haben müssen, beim Freilegen des Höhlenzugangs von jemandem überrascht zu werden. Zwar befand sich die Höhle laut Ryans Erklärungen weitab aller gängigen Wanderwege und Landstraßen, aber natürlich gab es auch Leute, die sich querfeldein durch das Gebiet schlugen. Bei dem Regen würde jedoch kaum jemand unterwegs sein, und schon gar nicht in der schwer begehbaren Wildnis.
Hoffentlich finden wir sie überhaupt, dachte Nora beklommen. Sie erinnerte sich an Ryans Schilderungen, unter Tränen stoßweise hervorgebracht.
»Weißt du noch, wo diese Höhle ist?«, hatte sie gefragt, an jenem Morgen, und er hatte gesagt, ja, er wisse es noch genau, und dann hatte er es beschrieben, so als wolle er sich selbst vergewissern, dass er nichts vergessen hatte.
Debbie fuhr, und Nora hielt eine Straßenkarte auf dem Schoß, außerdem einen Zettel, auf dem sie sich am gestrigen Abend aus dem Gedächtnis heraus Ryans Angaben notiert hatte. Sie hatte eine ganze Kanne von Debbies Wundertee getrunken, und tatsächlich war sie ruhiger geworden. Sie war fast sicher, dass sie alle seine Angaben hatte rekonstruieren können. Obwohl sie jetzt, da sie sich tatsächlich auf dem Weg hin zu dem Ort des Schreckens
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