Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
Kosmetikerin, ein paar Einkäufe.«
»Und eine Behandlung beim Physiotherapeuten«, ergänzte Harry und lachte albern.
»Das habe ich natürlich niemandem erzählt. Die Kollegen wären sonst … na ja, vielleicht beleidigt, weil ich mit dem Fuß zu dir gehe und nicht zu einem von ihnen.«
Kollegen … Ryan runzelte die Stirn.
»Und der Knöchel ist immer noch nicht abgeschwollen?«, fragte Harry.
»Nein, deshalb meinte der Arzt ja, ich sollte es mal mit Lymphdrainage versuchen.«
In dem Moment wusste Ryan Bescheid. Verdammt, das war Vivian da unten. Harrys ehemalige Arbeitskollegin, Noras ehemalige beste Freundin. Er entsann sich, dass Nora ihm vor ein paar Wochen erzählt hatte, dass Vivian auf dem Laufband umgeknickt war. Er hatte kaum hingehört, die ganze Person war ihm herzlich egal. Jetzt jedoch nicht mehr. Jetzt stellte sie eine Bedrohung dar. Jede Wette, dass sie Bescheid wusste.
»So, und dies ist also meine Praxis«, hörte er Harry sagen. Offenbar gelang es ihm endlich, Vivian in den Therapieraum zu lotsen.
»Sag mal, von dieser unfassbaren Geschichte hast du gehört?«, fragte Vivian.
»Von welcher Geschichte?«
»Na, die mit Ryan. Ryan Lee, Noras Freund. Weißt du das nicht? Weißt du nicht, dass er von der Polizei gesucht wird? Wegen Mordes ?«
Ryans Herz schien auszusetzen. Von unten kam sekundenlanges Schweigen.
» Was?«, fragte Harry dann und setzte gleich darauf zischelnd hinzu: »Jetzt komm endlich ins Zimmer! Mach die Tür zu!«
Ryan blickte sich um wie ein gehetztes Wild. Raus, er musste sofort raus hier und nichts wie weg. Vivian erzählte Harry gerade brühwarm, was los war, und als Nächstes riefen sie die Bullen, das war klar. Sein erster Gedanke war, aus dem Fenster zu klettern und die Regenrinne hinunterzurutschen, aber dabei sahen sie ihn natürlich unten vom Praxisraum aus. Außerdem war er dann im Garten, an dessen Ende sich die Gärten der nächsten Reihenhauskette anschlossen. Es brachte ihm nicht viel, hier durch die schier endlosen Gärten und Straßen der Siedlung zu irren.
Er hatte einfach zu lange gewartet. Er hätte gleich heute früh verschwinden sollen. Nachdem er sein eigenes Bild im Fernseher gesehen hatte.
Ein Auto! Er brauchte ein Auto.
Harrys Auto parkte vor dem Haus. Der Schlüssel lag meist in der Küche. Allerdings dort nicht an einem bestimmten Platz. Harry warf ihn immer irgendwohin. Ryan hatte jetzt schon mehrfach erlebt, wie er ihn händeringend suchte.
Egal, er musste es riskieren. Zu Fuß hatte er praktisch keine Chance, aber mit dem Auto konnte er erst mal Abstand gewinnen. Natürlich musste er dann sehen, dass er den Wagen loswurde und einen anderen bekam. Denn die Autonummer würde sofort an alle Polizeistreifen durchgegeben werden.
Lautlos öffnete er die Tür, schlich die Treppe hinunter. Er hätte sich gern schneller bewegt, aber er musste vorsichtig sein, um knarrende Dielen zu vermeiden. Er erreichte die Küche. Aus dem Praxisraum konnte er Vivians aufgeregte Stimme hören: » Hier bei dir? Oh mein Gott! Harry, der ist gefährlich! Der hat eine Frau umgebracht. Ich habe Nora immer gewarnt, aber sie wollte ja nichts davon wissen. Warum … Harry, wir müssen weg!«
Ryan sah sich in der Küche um. Er konnte den verfluchten Schlüssel nicht sehen. Weder auf der Anrichte noch neben der Spüle noch auf dem kleinen Tischchen, an dem er und Harry noch vor zwei Stunden gefrühstückt hatten.
»Sei doch leise!«, fuhr Harry Vivian an. »Willst du, dass er uns hört?«
»Ich hau ab. Ich bleibe hier keine Sekunde länger . Der Kerl ist zu allem fähig!«
»Jetzt warte doch. Noch hat er nichts gemerkt. Er sitzt oben und denkt, ich behandle irgendeine Patientin. Ich rufe jetzt sofort die Polizei an.«
Ryan konnte den Autoschlüssel noch immer nicht entdecken. Es war zum Wahnsinnigwerden. Vielleicht hatte Harry ihn gar nicht wie sonst in die Küche geworfen. Vielleicht steckte er in seiner Hosentasche.
Die Wohnzimmertür sprang auf, und Vivian, im sehr kurzen geblümten Minikleid, humpelte heraus. Sie hielt ihre Handtasche in der einen Hand, ihre Jeansjacke in der anderen und war deutlich entschlossen, jetzt auf der Stelle das Weite zu suchen, wobei ihr dick geschwollener rechter Knöchel sie stark beim Laufen behinderte. Als sie Ryan sah, der in der Küchentür stand, blieb sie abrupt stehen. Sie starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an und schien schreien zu wollen, brachte jedoch keinen Ton heraus. Für den Moment war sie in der typischen
Weitere Kostenlose Bücher