Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
war, obwohl er niemanden dort kannte. Die Farm war bekannt in der Gegend, und das, obwohl die Dörfer so weit voneinander entfernt lagen. Janine wusste, dass man sie alle für Abschaum hielt, für arbeitsscheues Gesindel, für asoziales Pack, für Kriminelle. Es gab Gerüchte von wilden Orgien, von Gruppensex, von enthemmtem Alkoholkonsum. Na ja, stimmte auch irgendwie, wie Janine zugeben musste. Einmal waren in der Gegend zwei Kinder verschwunden, und die Bewohner des nächsten Dorfes hatten die Polizei zur Farm geschickt, weil sie überzeugt gewesen waren, die Verbrecher da draußen müssten etwas damit zu tun haben. Das hatte nun nicht gestimmt, allerdings hatten die Bullen unter den vielen zugekifften Typen, die an jenem Tag im Wohnzimmer herumhingen, tatsächlich einen Kriminellen entdeckt, der wegen des Überfalls auf eine Tankstelle gesucht wurde. Weder Nick noch Janine kannten ihn. Er war einfach eines Tages aufgetaucht und hatte sich bei ihnen eingenistet. Niemand ahnte, dass nach ihm gefahndet wurde.
Janine ging in die Küche und bemühte sich, die Stapel von ungewaschenem Geschirr, die verklebten Kochtöpfe, den völlig verdreckten Fußboden zu ignorieren. Sie war die Einzige, die unter all dem litt: dem Dreck, dem Chaos, dem sinnlosen Gammeln, der Kälte, der Unordnung, dem Leben ohne jede Perspektive, dem Alkohol. Ja, unter dem Alkohol am meisten, denn er war schuld, dass sie es nicht schaffte, dieser Umgebung, Nick, seinen Freunden zu entfliehen. Oft spielte sie in Gedanken durch, wie es wäre, einen Entzug zu machen, aber sie scheute immer wieder davor zurück: Sie hatte ihre Mutter zu viele erfolglose Entzugsversuche machen sehen. Sie kannte das Grauen.
Und die Vergeblichkeit.
In der Küche fand sie als Erstes eine Armbanduhr und stellte fest, dass es fast drei Uhr war. Drei Uhr am Sonntagnachmittag. Dann entdeckte sie ein Röhrchen mit Aspirin, in dem sich – oh Wunder! – tatsächlich noch zwei Tabletten befanden. Sie füllte ein Glas mit Wasser und warf die Tabletten hinein. Sie wich dem Anblick einer halb vollen Weinflasche aus, die neben der Spüle stand.
Nein. Nicht sofort wieder.
Besser wäre es, sie würde ihre Kopfschmerzen los. Sie käme zur Besinnung. Sie würde diese grauenhafte Küche aufräumen.
Nichts davon würde geschehen, das wusste sie. Die Kopfschmerzen würden bleiben, sie würde versuchen, sie mit Alkohol zu betäuben. Und niemals würde irgendjemand diese Küche aufräumen.
Sie trank das Wasser und sah dabei aus dem Fenster, während sie abwechselnd die Füße anhob, um der Kälte des Steinbodens zu entgehen. Die Küche lag direkt unter ihrem Schlafzimmer, und sie konnte auch hier den Obstgarten sehen und den Rand des Wäldchens. Wieder fiel ihr der helle Fleck auf. Verdammt, hätte sie bloß ihre Brille! Wenn das wirklich ein verirrtes Jungtier war?
Janine mochte Tiere. Es hatte eine Zeit gegeben, zehn oder elf war sie gewesen, als sie unbedingt Tierärztin hatte werden wollen. Natürlich war nichts daraus geworden, aber die Liebe zu Tieren war ihr geblieben.
Ich müsste hinübergehen und nachsehen, dachte sie.
Das war in ihrem Fall nicht so einfach. Sie trug nur das Hemd von Nick, das ihr bis knapp an die Knie reichte, sonst nichts. Sie hatte keine Ahnung, wo sich ihre Klamotten oder ihre Schuhe befanden. Ihr war schlecht, und sie fror so, dass sie hätte heulen mögen.
Sie trank den letzten Schluck, stellte das Glas ab. Immerhin regnete es draußen nicht. Trotzdem war natürlich noch alles nass. Es war Wind aufgekommen, sie sah es daran, dass sich die Äste der Bäume bewegten und dass die Wolken in schnellem Tempo über den Himmel rauschten. Immer wieder tauchten leuchtend blaue Fetzen auf.
Vielleicht scheint heute noch irgendwann die Sonne, und dann gehe ich nachschauen, dachte Janine.
Allerdings ahnte sie, dass es zu richtigem Sonnenschein an diesem Tag nicht mehr reichen würde. Und dass sie nun die ganze Zeit über grübeln würde, was es mit dem weißen Fleck auf sich hatte. Es sei denn …
Ihr Blick fiel erneut auf die Weinflasche. Es war so leicht, alles auszuschalten. Alle Probleme loszuwerden, alles, was unangenehm war. Die Schmerzen, die Kälte, die Verantwortung. Alles würde sich ganz schnell auflösen, würde erst verschwimmen, dann immer unschärfer werden, schließlich überhaupt nicht mehr da sein.
Ihr schossen plötzlich die Tränen in die Augen, als sie an das Lämmchen dachte. Ohne Mutter. Einsam. Verzweifelt. Voller Angst.
Sie schob die
Weitere Kostenlose Bücher