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Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)

Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Flasche weg, ging zur Küchentür, öffnete sie. Der kalte Wind ließ sie erschauern. Gleich mit dem ersten Schritt nach draußen schlugen hohe, nasse Gräser gegen ihre Beine. Am liebsten wäre sie sofort wieder umgekehrt, am liebsten hätte sie irgendjemanden zu Hilfe geholt. Aber wer von den Chaoten da drinnen war schon ansprechbar?
    Sie überquerte den Hof, der früher einmal aus festgetretenem Lehm bestanden hatte, auf dem Hühner herumspaziert und Geräte abgestellt gewesen waren. Jetzt wucherten Gras, Disteln und Brennnesseln bis an die Schwelle der Küchentür. Übergangslos kam man in den einstigen Obstgarten. Im Herbst gab es hier noch immer Äpfel zu ernten, aber natürlich kümmerte sich niemand um die Bäume, stutzte ihre Äste und sorgte dafür, dass sie einander nicht in die Quere wuchsen. Der Regen der letzten Woche hatte die blassrosa Blüten zu Boden geschwemmt, das Gras stand fast hüfthoch. Der Wind vom gestrigen und heutigen Tag hatte die Nässe, die der tagelange Dauerregen hinterlassen hatte, noch nicht zu trocknen vermocht. Janine hatte jetzt nicht mehr nur nasse Beine, auch das Hemd sog sich mit Feuchtigkeit voll. Kalt und schwer klatschte es gegen ihre Oberschenkel. Sie schlang beide Arme fest um sich und kämpfte sich weiter voran. Sehnsüchtig dachte sie an eine heiße Dusche, aber es gab kein warmes Wasser im Haus. Einmal hatten sie und Nick kesselweise Wasser auf dem Herd erhitzt, es in eine alte Zinkwanne gefüllt und sich dann hineingesetzt. Es war ein wunderbares Gefühl gewesen, aber sie fürchtete, dass sie heute diese Energie nicht aufbringen würde. Vielleicht konnte sie sich wenigstens eine Wärmflasche machen.
    Sie erreichte das Ende des Gartens. Hier stand ein hölzerner Zaun, wundersamerweise weitgehend unversehrt. Es gab nicht vieles auf der Farm, was es schaffte, dem voranschreitenden Verfall Widerstand entgegenzusetzen, aber dieser Zaun gehörte dazu. Natürlich moderte das Holz, und irgendwann würde er zusammenbrechen, aber noch stand er aufrecht. Janine berührte ihn kurz mit der Hand, als müsse sie sich vergewissern, dass es so etwas wie Beständigkeit überhaupt noch gab auf der Welt.
    Das Tor hing schief in den Angeln, sie stieß es auf, was mühsam war, da es vom Gras blockiert wurde. Sie zwängte sich durch den schmalen Spalt und sah jetzt zu ihrer Erleichterung, dass es kein Lämmchen war, das dort unter den Bäumen lag. Gott sei Dank, sie hatte sich getäuscht, aber wie gut, dass sie nachgesehen hatte. Jetzt konnte sie beruhigt ins Haus zurückgehen. Irgendjemand hatte hier einen Haufen Kleider hingeworfen, einen weißen Mantel …
    Seltsam eigentlich. Hier kam ja nie jemand vorbei.
    Sie wollte sich umdrehen, da sah sie, dass sich der Mantel bewegte.
    So betrunken war sie nicht mehr! Ihre Mutter hatte ständig gesehen, dass sich Dinge bewegten, Tische und Stühle, und dass sie bedrohlich auf sie zukamen. Aber Janine kannte das nicht. Noch nicht.
    Sie überwand sich und trat näher an den Kleiderhaufen heran. Sie war tatsächlich so verheerend kurzsichtig, dass sie erst jetzt das Gesicht erkannte. Ein menschliches Gesicht. Das war überhaupt kein weggeworfener Kleiderberg. Das war ein Mensch, der da zusammengekrümmt im Gras lag.
    »Oh Gott«, sagte Janine entsetzt.
    Fiebrige Augen blickten sie an. Ein Mensch, völlig am Ende seiner Kräfte. Eine ältere Frau. Mit aufgesprungenen, wundgebissenen Lippen.
    Janine schluckte.
    »Bitte«, flüsterte die Frau. Es war ein ganz leises Krächzen. »Bitte, helfen Sie mir. Bitte.«
    11
    Im Laufe des Tages war es immer wärmer und sonniger geworden, und jetzt am Abend hatte der Wind alle Wolken endgültig davongeblasen und bescherte uns einen leuchtend blauen Himmel.
    Ich hatte eigentlich vor, mich von dem Taxi direkt nach Hause fahren zu lassen, aber plötzlich hatte ich das Gefühl, mit jemandem sprechen zu müssen, und deshalb dirigierte ich den Fahrer um. Zu Alexias Adresse. Ich brauchte eine Freundin.
    Bei Alexia öffnete niemand. Einen Moment lang stand ich ratlos und enttäuscht vor der Haustür. Waren sie alle unterwegs, hatten einen Ausflug unternommen und würden erst spät zurückkommen? Aber die Kinder mussten am nächsten Tag in die Schule. Vielleicht lohnte es sich zu warten.
    Während ich noch unschlüssig verharrte, sah ich ein Auto um die Straßenecke biegen, von dem ich im ersten Moment voller Erleichterung glaubte, es sei das meiner Freundin. Die Reeces fuhren einen uralten Vauxhall Bedford, einen weißen

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