Im Tempel des Regengottes
Schweigen. Helen glaubte das Pochen ihres eigenen Herzens zu hören, bis in ihre Schläfen hinauf. Das Lügengefühl! ›Nach allem, was ich für sie getan habe...‹ - ›Wenn Sie weiterhin davon absehen, sie anzuerkennen...‹ - Was um Himmels willen hieß das? Und wer mochte die junge Frau bloß sein? Eine India, ohne Zweifel, der Stimme nach etwa in ihrem Alter, Anfang Zwanzig oder wenig drüber - was nur hatte James Sutherland mit ihr zu tun?
»Was soll ich Mutter also ausrichten - wie entscheiden Sie sich?« Hinter dem wohlklingenden Zwitschern war ihre Stimme kalt wie Stein.
»Warte.« Sutherland ächzte. Helen vernahm ein Rascheln und Klappern, dann flackerte eine Kerze auf, wenige Schritte hinter ihr, auf der anderen Seite des Mahagonibaums. »Ich bringe rasch ein paar Zeilen zu Papier. Du verdrehst doch wieder nur alles, du Schlange, und wiegelst sie gegen mich auf.« Ein gewaltiger Schatten warf sich über den Rasen, als Mr. Sutherland dicht vor den Baumstamm trat, offenbar, um ihn als Stehpult zu verwenden. Gleich darauf hörte Helen das Kratzen eines Stiftes auf Papier. Doch kaum hatte Sutherland sein Brieflein beendet, da zerriß er es mit einem lauten Ratsch in Fetzen. »Nein, nichts Schriftliches«, hörte sie ihn murmeln.
»Sage ihr, daß ich noch eine Nacht Bedenkzeit brauche. Morgen wird sie meine Entscheidung erfahren.«
Behutsam wandte sich Helen im Sitzen um und versuchte um den Stamm herum nach den beiden zu spähen. Eben schob Sutherland mit der Rechten etwas in seine Jackentasche - zweifellos die Fetzen seines Briefes, ein breiter Streifen schaute noch aus der Tasche hervor. Neben ihm stand eine schlanke Frau mit langem, schwarzem Haar, bekleidet mit der weißen Tunika des einfachen Volkes, dabei ungemein großgewachsen für eine India. Sie wandte Helen den Rücken zu, und mehr war ohnehin nicht zu erkennen, da Mr. Sutherland in diesem Moment die Kerze in seiner Linken ausblies. Helen konnte eben noch sehen, wie er seine geheimnisvolle Besucherin zum Hoftor drängte, dann war sie wieder allem, in völliger Dunkelheit.
Minutenlang blieb sie noch hinter dem Mahagonibaum sitzen, den Kopf zur linken Schulter hin verdreht, bis ihr der Nacken schmerzte. Nur ganz langsam sickerte die Bedeutung der Szene in sie ein, deren Zeugin sie soeben geworden war. Sie beschloß, in ihrem Versteck zu verharren, bis Sutherland vom Hoftor zurückgekehrt und ins Haus gegangen wäre, und dann erst in ihre Dachkammer zu schleichen, über die Gesindetreppen, die der Hausherr niemals benutzte.
Nach endlosen Minuten wandelte Mr. Sutherlands Silhouette mondbeschienen durch den Patio, mit hängendem Kopf, über dem Wolken von Zigarrenrauch schwebten. Helens Gönner verschwand im Haus und riegelte eigenhändig ab, als ob sich die »unmäßigen Forderungen« durch Schlosserkunst abwehren ließen.
Im äußersten Winkel ihres Bewußtseins hatte Helen vorhin registriert, daß der Papierstreifen aus Mr. Sutherlands Jacke gefallen und im Schein der erlöschenden Kerze zu Boden gesegelt war. Als sie endlich hinter dem Mahagonibaum hervortrat, hob sie das Fetzchen im Vorübergehen gedankenschnell auf und schob es in den linken Ärmel ihres Quäkerkleides.
Ihren Hunger hatte sie vergessen, ebenso Schwüle oder Schlaf. In ihrer Mansarde angekommen, zündete Helen eine Lampe an und glättete den Fetzen, der von Sutherlands Hand beschriftet war.
Madam, verlangen Sie keine unbilligen Schritte. Alles ist zu H.s Wohl eingerichtet. Ihre Forderung ist maßlos! Eher noch Einigung in der anderen Sache möglich. Entscheidung morgen. Übereilen Sie nichts!
O doch, genau das würde sie tun! Den Fetzen in der Hand, eilte sie stehenden Fußes in die Nachbarmansarde, wo Dorothy Harmess zweifellos seit vielen Stunden schlief. Ein spitzer Schrei riß Helen aus ihren Gedanken. Sie fuhr auf und sah um sich. Über der Unendlichkeit des Waldes zog fahl der Morgen herauf. Erst nach einem Moment der Besinnung dämmerte ihr, wo sie sich befand.
7
Das Floß hatte sich nahe dem rechten Ufer auf eine Sandbank geschoben, und die Wellen schaukelten das Heck gemächlich auf und ab. Neben der Asche des erloschenen Bugfeuers lag Mr. Mortimer, in eine Decke gewickelt, ein unförmiges Bündel, aus dem nur zwei Füße in schlammverkrusteten Sandalen hervorsahen und am anderen Ende ein Schöpf honiggelben Haars. Auch auf der Heckseite des Floßes schien alles noch in ruhigem Schlaf zu liegen, die Pferde ebenso wie Mabo und Mr. Climpsey. Auf
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