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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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keine Erbsubstanz mehr isolieren, aber gut ...«
    Jeanne fand das keineswegs sinnlos – aus dem einfachen Grund, dass diese Gebeine vermutlich gar nicht alt waren.
    »Seine Befunde schienen unfasslich.«
    »Wieso?«
    »Die Knochen der Opfer und diejenigen des Jugendlichen sollen zur selben genetischen Gruppe gehört haben. Das hieße, dass unser Proto-Cro-Magnon-Mensch seine eigenen Verwandten aufgefressen hatte. Seine Brüder oder seinen Vater. Madre de Dios! Nach Meinung von de Almeida haben sie sich gegenseitig gefressen!«
    Das Zischen eines Dampfstrahls hallte durch den Raum.
    Tassen und Teller klirrten. Allerdings nicht so laut, dass Jeanne nicht gehört hätte, wie Féraud murmelte:
    »Totem und Tabu ...«

 
    73
    Zwölfhundert Kilometer liegen zwischen Tucumán und Formosa.
    Eine Fahrzeit von etwa zwanzig Stunden.
    Der Mann, bei dem sie den Wagen gemietet hatten – einen Toyota Land Cruiser Station V8 – hatte sie vorgewarnt. Es würde keine Vergnügungsfahrt werden. Die asphaltierte Straße würde häufig jäh in eine einfache Piste übergehen, gelegentlich sogar einspurig werden. In diesem Fall war die Begegnung mit einem LKW wie russisches Roulette.
    »Ich kann Ihnen meinen Wagen nur bis Formosa zur Verfügung stellen«, hatte er zum Schluss gesagt. »Dort müssen Sie mit den Leuten vor Ort weitersehen. Das ist das Ende der Welt.«
    Jeanne kannte das Land. Wenn ein Argentinier diesen Ausdruck benutzte, dann musste Formosa tatsächlich eine gottverlassene Gegend sein. Wieder hatte sie gezahlt – an ihren Kontostand dachte sie nicht mehr. Wie immer bar, denn die Argentinier mögen keine Kreditkarten. Das grenzenlose Reich des elektronischen Zahlungsverkehrs war ausgerechnet in Argentinien an seine Grenzen gestoßen. Also blieb ihr nicht anderes übrig, als eine Bank zu suchen und Formulare auszufüllen. Sie musste sich sogar mit ihrer Bankfiliale in Paris in Verbindung setzen. Das hatte den ganzen Nachmittag gedauert.
    Man hatte den Geländewagen hergerichtet. Den Kilometerzähler auf Null gestellt. Und man hatte sie mit ihrem Fahrer bekannt gemacht – sie hatten nicht darum gebeten, aber in Argentinien kostet die Arbeitszeit eines Menschen weniger als der Verschleiß eines Wagens. Daher werden Fahrzeuge mit Chauffeur vermietet, die ein wachsames Augen auf den eigentlichen Schatz haben: das Fahrzeug mit Allradantrieb.
    Jetzt brausten sie mit Vollgas dahin. Die Abenddämmerung zeigte sich von ihrer schönsten Seite – ein strahlendes rotes Glühen. Jeanne hatte ihr Fenster geöffnet. Diesmal schwebte der Geruch von gebranntem Ton in der Luft. Sie betrachtete die Felder, die vorbeizogen. Weizen, Mais, Zuckerrohr. Es war Winter, und es herrschte eisige Kälte. Dennoch schien die ganze Natur schwanger zu sein.
    Sie hatten sich nach hinten gesetzt. Féraud war eingeschlafen. Immer wieder rutschte er gegen ihre Schulter. Jedes Mal drückte sie ihn sanft zurück, wobei sie seine zarten Knochen durch sein Hemd hindurch spürte. Ein Jugendlicher in einem Schulbus. Sie erinnerte sich an eine ähnliche Szene in dem Roman Lieben Sie Brahms? von Françoise Sagan. Die Geschichte einer nicht mehr ganz jungen Frau, die sich in einen jungen Mann verliebte. Ging es ihr ebenso? Nein. Die Gefährlichkeit ihrer Expedition – um nicht von ihrer geradezu selbstmörderischen Dimension zu sprechen – hatte sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. In dieser Sache war sie in erster Linie Richterin. Eine Richterin mit kühlem Kopf, die ihren Fall so schnell wie möglich abschließen wollte ...
    Gelegentlich wandte sie den Blick von der Landschaft ab, um im Rückspiegel den Fahrer zu betrachten. Er war ein Mestize – halb Indio, halb Europäer. In seinen Gesichtszügen spiegelte sich die langsame Durchmischung der Ethnien im Verlauf der argentinischen Geschichte wider. Wanderungsströme, Eroberungen, Kämpfe, Vermischungen ...
    Sie überließ sich ihren Gedanken. Zu Recht oder zu Unrecht war sie der Ansicht, dass die Aussage von Taïeb einen Wendepunkt darstellte. Zumindest gewann die »gewagte« Hypothese an Plausibilität. Ein archaisches Volk. Ein kannibalistischer Klan. Eine Gemeinschaft, die auf Blutsverwandtschaft, Inzest und Vatermord gegründet war ... die in unzugänglichen Wäldern Zuflucht gefunden hatte und seit Jahrtausenden jeglichem Kontakt mit dem »hochentwickelten« Mensch aus dem Weg ging.
    Das Unmögliche zeichnete sich ab.
    Und das Unmögliche hatte ein Monster gezeugt: Joachim.
    Eine

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