Im Wald der stummen Schreie
Dazu noch die Dreiviertelstunde Anfahrzeit zu den Anhöhen von Garches, wo sich das Bettelheim-Institut befand.
»Was sind die Symptome, die all diesen Erkrankungen gemeinsam sind?«
Jeanne hatte diese Frage gestellt, um auf konkrete Punkte zurückzukommen. Sie selbst hatte einige dieser Symptome gesehen. Der unstete Blick, die tickartig zuckenden Augen des Angreifers in dem Badezimmerfenster der Praxis von Féraud. Sie hörte noch einmal die hastig heruntergeleierten Worte von Porque te vas .
»Es gibt eine Unzahl von Verhaltensauffälligkeiten«, antwortete Hélène Garaudy. »Und ebenso viele Schweregrade und Verlaufsformen. Einige autistische Kinder lernen sprechen, andere nicht. Einige führen ein selbstständiges Leben und machen eine Ausbildung, andere nicht. Aber bei den Symptomen geht es immer um soziale Isolation. Der Autist ignoriert das, was von außen kommt. Er verhält sich so, als ob die anderen nicht existieren würden, seine Eltern eingeschlossen. Er fürchtet sich vor körperlichem Kontakt. Ein weiteres Leitsymptom ist das Bedürfnis nach Beständigkeit. Das autistische Kind will in einer unveränderlichen Welt leben. Sein Umfeld darf sich nicht wandeln. So räumt ein Autist beispielsweise in seinem Zimmer alles immer an seinen gewohnten Platz und besitzt ein hervorragendes Gedächtnis für diese Details. Man nimmt an, dass er im Grund keinen Unterschied zwischen sich selbst und seiner Umgebung macht. Er erlebt jede Veränderung als eine Kränkung, einen Angriff auf seine Person.«
»Auch Sprachstörungen sollen auftreten ...«
»Ja, allerdings nur bei denjenigen, die überhaupt sprechen lernen.«
Jeanne erinnerte sich an die Worte Férauds. Aber sie wollte eine Bestätigung.
»Welches sind die häufigsten?«
»Das autistische Kind spricht von sich in der zweiten oder dritten Person, als stünde es neben sich selbst. Es hat auch Schwierigkeiten, ›ja‹ zu sagen. Häufig wiederholt es die Frage, um seine Zustimmung auszudrücken. Auch Echolalie kommt vor. Das Kind spricht bestimmte Wortfolgen immer mit der gleichen Betonung aus. Auf den ersten Blick ist dies scheinbar bedeutungslos, doch einer der ersten Psychiater, der diese Fälle studiert hat, Leo Kanner, hat bemerkt, dass die Bedeutung dieser Wortgruppen auf die Situation verweist, in der das Kind sie zum ersten Mal gehört hat. Die Wortfolge wird so zu einer Metapher dieser Situation und der Erfahrung, die damit verknüpft ist.«
Jeanne musste wieder an das Lied Porque te vas denken .
»Einem seelischen Trauma?«
»Nicht unbedingt. Das Kind merkt sich beispielsweise einen Satz, der mit einem Glücksgefühl verbunden ist. Jedes Mal, wenn es ihn wiederholt, bedeutet dies: ›Ich bin glücklich.‹ Aber Vorsicht, alles, was ich Ihnen sage, gilt unter Vorbehalt. Ich projiziere Emotionen, typisch menschliche Reaktionen auf eine Welt, die nichts mit der ›normalen‹ menschlichen Psyche gemeinsam hat. Die Welt des Autisten ist wirklich eine Welt für sich.«
Jeanne hatte sich an den Beckenrand gesetzt, die Füße im Wasser. Hélène Garaudy stützte das Mädchen noch immer ab. Es lag mit schrecklich verzerrtem Gesicht reglos im Wasser. Jeanne konzentrierte sich auf ihre Fragen. Sie war hier, um drei Elemente miteinander zu verknüpfen, die durch die Berufe der drei Opfer gegeben waren: Autismus, Genetik, Vorgeschichte.
»Gibt es genetische Ursachen des Autismus?«
»Aktuelle Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass einige autistische Syndrome genetische Ursachen haben könnten. Danach wäre der Autismus sogar die psychische Störung mit der stärksten genetischen Komponente. Aber wir müssen vorsichtig sein. Wir wissen noch immer nicht genau, welcher Typ von Genen betroffen ist, und vor allem kennen wir die relevanten Umweltfaktoren nicht.«
»Der Autismus lässt sich also nicht vor der Geburt nachweisen, beispielsweise anhand des Karyogramms eines Fetus?«
»Man hat Chromosomenabschnitte identifiziert, die bei bestimmten Fällen von Autismus betroffen sind, aber Frühdiagnosen sind nicht möglich. Bislang. Aber die Forschung schreitet rasch voran.«
»Kommen auch seelische Traumata als Ursachen in Betracht?«, fragte Jeanne, das Gespräch in eine neue Richtung lenkend. »Werden manche Kinder aufgrund psychischer Schocks autistisch?«
Hélène Garaudy lächelte. Ihr Gesicht wirkte alterslos. Man konnte auch nicht sagen, ob es schön oder hässlich war. Es strahlte lediglich vollkommene Souveränität aus. Eine
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