In der Stille der Nacht - Thriller
Seitdem mussten die Leute hier wohnen. Das Sozialamt erneuerte solche Teile, wenn neue Leute einzogen. Auch den alten Bewohnern wurden neue Türen und Fenster angeboten, aber die älteren Leute wollten meist lieber alles lassen wie es war, da sie einer Generation angehörten, die wusste, was ihr gefällt und nicht glaubte, dass Wohnungseinrichtungen jährlich wechselnden Moden unterworfen sein sollten.
»Alte Dame«, riet Morrow und drückte auf die Klingel.
»Ein Pfund dagegen«, wettete Harris.
Schlurfende Schritte, eine alte Dame rief mit schwacher Stimme: »Hallo?«
Morrow lächelte: »Mrs Tait?«
»Hallo?«
Harris und Morrow sahen einander an. Entweder hatte sie Morrow nicht gehört oder sie wollte Zeit schinden. Malcolm Tait konnte in der Zwischenzeit seelenruhig durch die Hintertür verschwinden.
Plötzlich hellwach hob Morrow die Faust und hämmerte gegen die Tür, während Harris zurück auf die Straße ging und einen Weg ums Haus herum in den Garten suchte. Plötzlich öffnete sich die Tür und eine dünne Frau blickte ihnen entgegen, legte den Kopf in den Nacken, um sie durch den unteren Teil ihrer rotumrandeten Zweistärkenbrille besser sehen zu können.
Annie Tait trug ausgebeulte rote Jogginghosen und ein ärmelloses weißes Hemdchen unter dem die BH-Träger hervorlugten. Sie hatte die Arme einer sehr viel jüngeren Frau.
Einst waren ihre Haare rot gewesen, wie die ihres Sohns, aber sie hatte sie blond gefärbt, am Haaransatz mischten sich fünf Zentimeter breit Rot und Grau. Es war wuscheliges krauses Haar, das Färben hatte die Spitzen ausgetrocknet und brüchig gemacht. Es sah aus wie ein platt geregneter Afro. Verlegen wegen ihres Aussehens, fasste sie sich an den Kopf. »Wer sind Sie?«
Morrow trat vor. »Ich bin DS Morrow, das hier ist DC Harris. Wir kommen wegen Malcolm.«
»Was ist mit ihm? Er wurde doch nicht verhaftet?«
»Nein, Mrs Tait, wir möchten nur gerne mit ihm sprechen.«
Annie zog die Tür hinter sich zu, so dass sie ihnen mit ihrem Körper die Sicht ins Haus verstellte. »Nicht die warme Luft rauslassen …«, erklärte sie Harris und wandte sich dann wieder an Morrow, als wäre diese ganz selbstverständlich die Chefin. »Ich suche ihn auch. Ständig suche ich Malki, verflucht nochmal. Haben Sie die Nummer von dem Taxiunternehmen?«
»Die haben wir, ja, darüber wollten wir mit Ihnen sprechen.«
»Wieso?« Annie bewegte ihr Kinn zur Brust, wollte ausprobieren, ob sie durch den oberen Teil ihrer Zweistärkenbrille besser sah. Unzufrieden entschied sie sich doch wieder für den unteren Abschnitt. Die Brillengläser verzerrten Morrows Blick auf ihre Augen, und ihr wurde ein kleines bisschen schlecht davon.
»Dürfen wir reinkommen, Mrs Tait? Ist das in Ordnung?«
Annie warf einen Blick auf die Straße und hoch zur Kirche, als wollte sie sichergehen, dass Jesus nicht zusah, und öffnete die Tür.
»Ja«, sie rümpfte die Nase, als böte sie einer streunenden nassen Katze eine Schale Wasser an, »kommen Sie herein.«
Harris folgte Morrow, schloss die Tür hinter sich. Der Flur war schmal und schlicht, grün gestrichen, ein passender Teppich dazu. Links befand sich ein Wohnzimmer, das auf seine Weise genauso ordentlich war wie das der Anwars, nur ausgestattet mit älteren, billigeren Möbeln. Eine Treppe führte zur Rechten hinauf zu den Zimmern. An der Wand, die Treppe entlang, hingen Collagen aus Familienfotos in billigen Metallrahmen, alle zeigen Malcolm und die rothaarige Annie, einmal im Garten, in hässlichen Sälen bei Hochzeiten, niemals im Ausland, niemals am Strand. Vom Vater schien es keine Bilder zu geben.
Malcolm bei der Erstkommunion, stocksteif stand er in Hemd und Anzug mit feierlicher Miene und feucht geglättetem Haar und Rosenkranzperlen in den zum Gebet gefalteten Händen da, wie ein Houdini für Arme. Das Bild war vor der Kirche die Straße runter aufgenommen, Morrow erkannte undeutlich das Haus im Hintergrund.
Annie sah, dass Morrow das Foto betrachtete. »Das ist er, als er noch klein und lieb war. Na ja, lieb ist er immer noch, aber anders. Also, haben Sie das Taxi gefunden? Er hat nicht angerufen, meistens macht er das, wenn er wegbleibt und es nicht vergisst, also wenn er sich nicht gerade ins Nirwana geschossen hat.«
»Ins Nirwana?«, wiederholte Harris, der glaubte, sich verhört zu haben.
Annie verschränkte die Arme. »Haben Sie das nicht gewusst? Malki ist heroinabhängig.« Sie zeigte auf einen Stapel fotokopierter Flugblätter auf
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