In Liebe, Rachel
im Auto. Wir hatten schon aufgegeben und wollten nach Hause fahren, beobachteten die anderen Wagen, die davonfuhren. Ich weiß nicht mehr, wessen Idee es war. Wahrscheinlich kamen wir alle gemeinsam darauf, als wir durch die Scheiben auf den schlammigen Hügel blickten. Sarah sagte etwas wie »Monsunschlittenfahren« und du, dass du einen Drink gebrauchen könntest, und ich: »Ich wünschte, wir hätten Cafeteriatabletts«, und Kate: »Mülltüten tun es auch.« Dann stapften Kate, Sarah und ich durch den Regen auf den Hügel, grüne Hefty-Mülltüten in der Hand, und dann rutschten wir lachend auf diesen Tüten durch die immer größer werdenden Pfützen nach unten, wischten uns den Dreck aus den Augen und sahen, wie die Autos anhielten und die Leute wieder ausstiegen. Erst als wir Stunden später zum Zelt zurückkamen, merkten wir, dass du in der Zwischenzeit in einem Lebensmittelladen gewesen warst und Trockenfleisch und Bourbon gekauft hattest. Und Sarah hatte jemanden getroffen, den sie kannte, einen Musiker, der sich zu uns an den Campingkocher setzte und Gitarre spielte wie ein junger Gott, und wir legten die Arme umeinander und sangen. Immer mehr Leute kamen dazu, während der Schlamm auf unserer Haut trocknete, der Regen versiegte und der Mond aufging. In dieser Nacht begriff ich, dass dies nicht das Ende unserer Freundschaft war, dass das, was uns verband, das, was wir tief drinnen alle verstanden, dieses Leben war – wie auch immer wir es leben wollten. Das Leben war etwas, was man mit offenen Augen und aus vollem Herzen in die Arme schloss, und wenn wir uns anstrengten, konnten wir für immer Freundinnen sein, wie an diesem Tag.
Jo, von uns vieren warst du immer die stärkste. Du bist viel stärker, als du mit deinem süffisanten Grinsen und flüchtigen Affären zeigst. Das war mir schon am ersten Tag klar, als ich dich bei dem Treffen des Bergsteigerclubs gesehen habe. Deine Südstaatenwitzeleien und gedankenlose Respektlosigkeit rührten von einer Person, die Schreckliches erfahren und sich durch die Kraft des eigenen Willens daraus befreit hatte. Die anderen Briefe habe ich für die Menschen und ihre Bedürfnisse geschrieben – nur bei deinem war ich selbstsüchtig. Meine Bitte an dich wird die härteste Aufgabe von allen sein, weniger für dich als vielmehr für mich. Die Zeit reicht einfach nicht, weißt du? Ich habe mich so darum bemüht. Nachdem Grace auf der Welt war, habe ich das Fallschirmspringen und das Base-Jumping aufgegeben, habe den Job bei der Abenteuerreiseagentur angenommen und viel zu viel Zeit im Büro verbracht, habe Flüge gebucht und Reisen für Fremde organisiert, und ich glaubte, dass ich ein Gleichgewicht zwischen meinem und dem kostbaren jungen Leben, für das ich verantwortlich war, geschaffen hätte. Doch es war nie genug, und jedes Mal, wenn ich von einer Reise zurückkehrte, schien ich zu einer kleinen Fremden nach Hause zu kommen, zu einer Tochter, die ich erst wieder neu kennenlernen musste.
Ich bitte dich nun darum, Jo, das zu vollbringen, worin ich versagt habe. Ich weiß, dass du es für einen Fehler halten wirst, aber es ist keiner. Hier spricht nicht die Krankheit aus mir, denn, auch wenn meine Hand zittert und ich kaum diesen Stift halten kann, meine Worte kommen aus dem unerschütterlichen, zähen Teil von mir, den der Krebs noch nicht erreicht hat.
Jo, ich möchte, dass du die Mutter meines Kindes wirst. Ich mache dich zu ihrem gesetzlichen Vormund. Nimm Grace zu dir. Kümmere dich um sie, und mach es besser, als ich es konnte.
Liebe sie, wie ich es immer tun werde.
In Liebe,
Rachel
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Kapitel 16
K indertee im
Carlyle Hotel
an der Upper East Side war nicht gerade das, was Bobbie Jo Marcum normalerweise in ihre Planung für einen Sonntagnachmittag aufnahm. Doch Bobbie Jo war nicht mehr dieselbe wie noch vor einem Monat, als sie die meisten Sonntage damit verbracht hatte, Rascal Flatts zu hören und genüsslich die
New York Times
von vorn bis hinten zu lesen. Die neue Bobbie Jo saß einem kleinen Mädchen gegenüber, das ein rotes Schottenkarokleid über einer ordentlichen weißen Bluse mit einem Peter-Pan-Kragen trug. Auf Grace’ Kopf befand sich ein breitkrempiger gelber Hut mit einer roten Schleife, den abzulegen sie sich starrsinnig weigerte.
Der Raum war voller solcher Hüte. Der Kindertee war inspiriert von der Madeline-Serie des Schriftstellers Ludwig Bemelmans. Die bekannte Geschichte von dem französischen Schulmädchen, das in einem
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