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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Sebold
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Highway, atmete aber ganz flach, als sie erneut den Parkplatz überquerte. Der Wagen der verängstigten Besucherin stand noch da.
    In der großen Eingangshalle, wo selten Leute saßen, be-schloss sie, sich hinzusetzen und darauf zu warten, dass sich ihr Atemrhythmus beruhigte.
    Sie würde ein paar Stunden bei ihm verbringen, und wenn er aufwachte, würde sie sich verabschieden. Sobald ihre Entscheidung getroffen war, durchflutete sie eine willkommene Kühle. Das plötzliche Erleichtertsein von Verantwortung. Ihr Ticket in ein fernes Land.
    Es war schon spät, nach zehn, und sie nahm einen leeren Aufzug in den vierten Stock, wo die Lampen im Flur abgedimmt worden waren. Sie kam am Schwesterntresen vorbei, hinter dem zwei Krankenschwestern leise tratschten. Sie hörte die schwungvolle Melodie und die Schadenfreude in den unterschiedlich nuancierten Gerüchten, die die beiden austauschten, den Klang müheloser Intimität. Dann, als die eine gerade ein hohes Lachen ausstieß, öffnete meine Mutter die Tür zum Zimmer meines Vaters und ließ sie hinter sich zufallen.
    Allein.
    Es war, als ob die Stille eines Vakuums herrschte, als sich die Tür schloss. Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht hierher gehörte, dass ich gehen sollte. Aber ich war wie gebannt.
    Als sie ihn da im Dunkeln schlafen sah, das nur von der Niedrigwatt-Leuchtstoffröhre am Kopfende seines Bettes erhellt wurde, erinnerte sie sich daran, wie sie im selben Krankenhaus gestanden und Schritte eingeleitet hatte, sich von ihm zu trennen.
    Ich sah, wie sie die Hand meines Vaters ergriff, und dachte daran, wie meine Schwester und ich unter dem Grabsteinabdruck oben im Flur gesessen hatten. Ich war der tote, mit meinem treuen Hund in den Himmel gekommene Ritter, und sie war das Energiebündel von Ehefrau. »Wie kann man erwarten, dass ich mich für den Rest meines Lebens von einem Mann einsperren lasse, der im Tod erstarrt ist?« Lindseys Lieblingszeile.
    Meine Mutter saß eine ganze Weile mit der Hand meines Vaters in ihren Händen da. Sie überlegte, wie wunderbar es wäre, auf die frischen Krankenhauslaken zu klettern und sich neben ihn zu legen. Und wie unmöglich.
    Sie beugte sich tiefer hinunter. Sogar durch die Antiseptika und den Alkohol hindurch konnte sie den Grasgeruch seiner Haut riechen. Als sie unser Haus verlassen hatte, hatte sie ihr Lieblingshemd meines Vaters eingepackt, in das sie sich manchmal wickelte, nur, um etwas von ihm anzuhaben. Sie trug es nie draußen, deshalb haftete der Duft länger. Sie entsann sich einer Nacht, in der sie ihn besonders vermisst und das Hemd über ein Kissen geknöpft und sich hineingeschmiegt hatte, als wäre sie noch ein Schulmädchen.
    Jenseits des geschlossenen Fensters konnte sie das entfernte Summen des Verkehrs auf dem Highway hören, doch das Krankenhaus machte für heute Abend dicht. Lediglich die Nachtschwestern erzeugten mit ihren gummibesohlten Schuhen Geräusche, wenn sie auf dem Flur vorbeigingen.
    Im vergangenen Winter hatte sie zu einer jungen Frau, die samstags mit ihr am Weinprobenausschank arbeitete, einmal gesagt, in einer Paarbeziehung gäbe es immer einen, der stärker sei als der andere. »Das bedeutet aber nicht, dass der Schwächere den Stärkeren nicht liebt«, hatte sie vorgebracht. Das Mädchen schaute sie ausdruckslos an. Für meine Mutter war das Wichtige daran allerdings, dass sie sich, während sie redete, plötzlich als die Schwächere identifiziert hatte. Diese Offenbarung brachte sie völlig durcheinander. Hatte sie denn nicht all die Jahre das Gegenteil geglaubt?
    Sie rückte ihren Stuhl so nahe wie möglich an seinen Kopf und legte ihr Gesicht auf den Rand seines Kissens, um ihm beim Atmen zuzuschauen, um das Zucken seines Auges unter dem Lid zu sehen, wenn er träumte. Wie konnte es sein, dass man jemanden so sehr liebte und es vor sich selbst geheim hielt, wenn man tagtäglich so weit weg von zu Hause aufwachte? Hatte sie Reklameschilder und Autobahnen zwischen sich und ihn gelegt, Straßensperren hinter sich aufgerichtet und den Rückspiegel abgerissen und geglaubt, das würde ihn verschwinden lassen? Ihr gemeinsames Leben und ihre Kinder auslöschen?
    Es war so einfach, während sie ihn beobachtete und sein regelmäßiges Atmen sie beruhigte, dass sie zunächst gar nicht erkannte, was geschah. Sie begann, an die Zimmer in unserem Haus zu denken und an die in ihnen verbrachten Stunden, die sie sich so sehr bemüht hatte zu vergessen. Wie bei Früchten, die in Gläsern

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