In Wahrheit wird viel mehr gelogen - Erben bringen Glück
liegt daran, dass die Mehrzahl der Leute, die in ihrer Jugend mal Klavierunterricht gehabt haben, geradezu zwanghaft »Für Elise« spielen müssen, wenn sie irgendwo ein Klavier sehen. Allerdings immer nur den Anfang, den schwierigeren Mittelteil lassen sie lieber aus, sofern sie ihn überhaupt jemals konnten. Alternativ geben sie noch gern »Ballade pur Adeline« von Richard Clayderman zum Besten. Die ohne Klavierunterricht spielen den »Flohwalzer«.
Helen spielte den schwierigen Mittelteil mit, aber sie spielte ihn schlecht. Trotzdem klatschte ihre Mutter enthusiastisch Beifall. »Und jetzt du, Leo!«
Bitte nicht » Ballade pur Adeline«, betete ich stumm. Leo überraschte mich positiv und stimmte den »Fröhlichen Landmann« von Schumann an. Den hatte ich mit sieben Jahren auch mal gespielt.
Leos Mutter platzte beinahe vor Stolz. »Großartig!«, sagte sie. »Die Frau, die dich mal abkriegt, kann sich wirklich glücklich schätzen. Ein Jurist mit musischer Begabung! Und dabei noch so gut aussehend wie ein Filmstar.«
»Mama!«, sagte Leo verlegen.
»Ist doch wahr!«
»Und die Waschmaschine reparieren kannst du auch«, sagte Corinne.
» Und super Tennis spielen«, sagte Helen.
» Und kochen und backen«, sagte seine Mutter.
»Aber nicht so gut wie du, Mama«, sagte Leo und gab ihr einen Kuss.
»Nicht doch«, sagte seine Mutter. »Sonst wird die Carola noch eifersüchtig.«
Die Carola war natürlich nicht eifersüchtig, die Carolin aber schon ein wenig … irritiert. In unserer Familie hatten wiruns auch lieb, und wir waren auch alle sehr stolz aufeinander, aber mit Komplimenten waren wir ein wenig zurückhaltender. Sätze wie »Du bist so gut aussehend wie ein Filmstar« hörte man bei uns zu Hause eigentlich nie. Dann schon eher Sätze wie »Du siehst dem Hund mit jedem Tag ähnlicher«.
War Leo am Ende ein Muttersöhnchen?
Auf der Rückfahrt nach Köln fragte ich ihn nach seinem Vater. Er hatte die Familie und Oer-Erkenschwick verlassen, als Leo vierzehn Jahre alt gewesen war, und Leo nahm ihm das bis heute sehr übel. Der Vater, ein recht bekannter Kunsthistoriker, sei vorher schon nie viel zu Hause gewesen, immer unterwegs, auch im Ausland, die ganze Erziehung habe er der Mutter und den Großeltern überlassen. Ein unpraktischer Mensch sei er, nicht mal eine Glühbirne könne er wechseln, keinen Nagel gerade in die Wand schlagen, alle Reparaturen im Haus habe immer er, Leo, übernehmen müssen. Oder der Opa. Ein eitler Egoist sei der Vater, ein verantwortungsloser Selbstdarsteller, der sich auch jetzt kaum um seine Kinder kümmerte. Ständig zog er um, die Unterhaltszahlungen kamen unregelmäßig, und wären da nicht die gutbetuchten Großeltern, wäre wohl kaum genug Geld für Klavier- und Tennisstunden da. Es täte ihm leid, das sagen zu müssen, aber sein Vater sei einfach in jeder Beziehung ein Mistkerl. Wenn Leo überhaupt etwas Positives über ihn berichten könne, dann die Tatsache, dass er dank seines Vaters genau wisse, wie er mal werden wolle, nämlich das genaue Gegenteil.
Sofort hatte ich Mitleid mit Leo. Vielleicht war es ja unter diesen Umständen normal, dass man sich ein wenig enger an seine Mutter und Schwestern band. Aus reiner Solidarität gegen den Schuft von Vater.
Ich hätte gern seine Hand gestreichelt, aber er brauchte sie zum Lenken. Deshalb streichelte ich sein Bein.
Leo lächelte mich an. »Keine Sorge wegen meiner Mutter. Sie ist am Anfang immer ein bisschen kritisch, wenn es um meine Freundinnen geht. Aber sie hat ein Herz aus Gold.« (Das hielt ich wiederum für ausgeschlossen. Wenn das Herz seiner Mutter überhaupt aus einem Edelmetall war, dann höchstens aus Zinn.) »Sie wird deine Qualitäten schon noch erkennen. Weißt du, du bist eben mehr ein Mädchen für den zweiten Blick. Nicht so ein Fotomodeltyp wie meine anderen Freundinnen und auch nicht so ehrgeizig, aber dafür auch nur halb so zickig.«
»Das stimmt«, sagte ich erleichtert, obwohl ich seine Exfreundinnen natürlich gar nicht kannte. »Du hattest wohl schon viele Freundinnen, hm?«
»Zahlen sind doch relativ«, sagte Leo mit einem schiefen Grinsen. »Es kommt immer darauf an, wie ernst man eine Beziehung nimmt. Und das mit uns meine ich wirklich sehr ernst. Das mit uns hat Zukunft.«
Da sah ich Leo von der Seite an und dachte, dass es doch eigentlich egal sein konnte, was seine Mutter von mir dachte.
Hauptsache war doch, er liebte mich so, wie ich war. Oder – ähem – vielmehr so, wie ich
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