Isau, Ralf
bedrückt.«
Erstaunlicherweise wirkte Herr Trutz in diesem Moment völlig klar, aufrichtig interessiert an der Familiengeschichte seines Besuchers, fast wie ein alter weiser Freund, der behut-sam in seinen jüngeren Gefährten dringt, um herauszufinden, wie er diesem einen guten Rat geben kann.
Karl seufzte leise, dann begann er zu reden. Er grub in seinen ältesten Erinnerungen, als er noch ein kleiner Junge gewesen war und eine heimtückische Grippe plötzlich seine Mutter hingerafft hatte. Der Vater war danach wie verwandelt gewesen. Bereits als Neunjähriger hatte Karl den Haushalt besorgt. Zum Spielen fehlte ihm meistens die Zeit. Wenn der Vater abends mürrisch nach Hause kam, hatte er ständig etwas an Karls Arbeit auszusetzen. Er traute seinem Sohn nichts zu. »Das schaffst du sowieso nicht«, sagte er bei jeder Gelegenheit. Er war ein Beamter, der sich damit zufriedengab, Vorschriften zu befolgen – tagein, tagaus. Zu Hause erwartete er von seinem Sohn dieselbe strenge Ordnung, aber Karl war zu verspielt, obwohl er doch nur selten zum Spielen kam. Er machte ständig etwas anders. Heute legte er die Gabeln in dieses Fach und morgen in jenes. Er probierte andauernd etwas Neues aus. Hier bemalte er das Küchenfenster mit Wasserfarben, und dort stellte er die Möbel in der guten Stube um. Solche schöpferischen Eruptionen zogen meistens Wutausbrüche seines Vaters nach sich, so dass Karl sie allmählich eindämmte und in sein Inneres verlegte. Nun vergrub er sich in jeder freien Minute hinter Büchern. Aber auch das war seinem Vater ein Dorn im Auge, »Mein Sohn holt aus der Bücherei immer die Schwarten, aus denen er nichts lernen kann«, hatte Karl ihn einmal sich bei einer Nachbarin beschweren gehört. Damit meinte sein Vater Romane, Märchen, Fabeln, Sagen. »Um Gesetzbücher, Dienstvorschriften, Parteiprogramme und andere sinnvolle Lektüre macht er einen großen Bogen.«
Damit hatte der Vater nicht ganz Unrecht. Karl träumte davon, eines Tages in einer Bibliothek zu arbeiten oder, besser noch, einen eigenen Buchladen zu führen. »Das schaffst du sowieso nicht«, höhnte sein Vater und meinte, bald würden alle nur noch ein Buch lesen dürfen. Sein Sohn solle etwas Vernünftiges lernen. Gerne hätte Karl sich auf einer Hochschule mit den großen Meistern der Literatur beschäftigt, aber das konnte er gegen seinen alten Herrn nicht durchsetzen. Immerhin erkämpfte er einen Kompromiss. Mit väterlichem Segen begann er ein Geschichtsstudium und durfte nun doch seine Nase in Bücher stecken. Wäre es nach seinem Vater gegangen, dann würde er längst in der Wehrmacht dienen. Aber auch das Studium lief nicht ganz so, wie Karl es sich erträumt hatte. Nach ein paar Semestern hing es ihm zum Halse heraus. Das hatte hauptsächlich mit der Art und Weise zu tun, wie die Professoren die Historie in das von höchster Stelle vorgegebene Schema pressten. Karl hatte oft ganz spontan unbequeme Fragen gestellt – nicht weil er so mutig war, sondern eher aus einer kindlichen Unbekümmertheit. Damit war er allerdings bei einigen Herren unangenehm aufgefallen. Zuerst beschimpfte man ihn als nicht anpassungsfähig, als Querulanten, dann wurde er schließlich der Universität verwiesen. Kurz darauf kam die Bewerbung bei Herrn Trutz.
»Dem Herrn, den Sie hier zu treffen hofften?«, erinnerte sich der Alte.
Immerhin!, dachte Karl und nickte. Vielleicht ließ sich das Gedächtnis des Buchhändlers ja doch irgendwie wiedererwecken. Als nun jedoch Hallúzina aus der Küche kam, in den Händen ein Tablett mit Teegläsem und einer dampfenden Kanne, war es damit vorerst zu Ende. Karl schlürfte den heißen, aromatischen Kräutertrunk und beobachtete die Hexe über den Rand seiner Tasse hinweg. Irgendwie musste er sie überlisten.
∞
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als Karl aus einem unruhigen Schlaf erwachte. Sein verletztes Fußgelenk brannte wie Feuer. Während er sich auf seinem Lager mal hierhin, mal dorthin warf, grübelte er über Hallúzinas Geheimnis. Wie schaffte sie es, dem alten Trutz ihre wahre Gestalt zu verbergen? Er sah in ihr Marie, seine geliebte Frau. Der alte Narr schien in seiner Verblendung sogar glücklich zu sein.
Trotz schärfsten Beobachtens war es Karl im Laufe des vergangenen Nachmittags und Abends nicht gelungen, den Schwachpunkt zu entdecken, an dem er Hallúzina packen konnte. Sie verhielt sich ihm gegenüber durchaus freundlich und ertrug alle seine spitzen Bemerkungen und
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