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Jagablut

Jagablut

Titel: Jagablut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Eberl
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Hirschhornknöpfen. Sein Gesicht war unrasiert und faltig. Es kam
mir entfernt bekannt vor. »Sie waren doch nicht etwa joggen?«
    »W-wer sind Sie? W-was machen Sie hier?« Ich konnte nur nuscheln. Meine
Kiefer schienen wie gefroren.
    »Ja, ich betreu die Wildfütterung da droben, was denn sonst?« Er zeigte
den Hang hinauf. »Bei dem Wetter geh ich doch nicht spazieren.« Sein Blick
wanderte über meine Gestalt.
    »Nachts auch …?« Das Reden fiel mir schwer.
    »Nachts geh ich nicht füttern. Höchstens bei Vollmond auf die Fuchsjagd.«
Deshalb hatte ich die weiße Gestalt also von meinem Fenster aus immer in den
Wald gehen sehen. »Sie, Fräulein, jetzt schauen wir aber, dass wir Sie ins Tal
kriegen, bevor’s finster wird. Wie sind S’ denn überhaupt hier
heraufgekommen?« Er streckte mir seine Hand entgegen. »Geht’s?«
    Es brauchte mehrere Versuche, bis es mir gelang, mich mit seiner Hilfe
auf die Beine zu hieven. Der Mann zog seine Jacke aus und legte sie mir um die
Schultern.
    »Könnte … ich … n-noch Ihren Schal haben?«, fragte ich. »M-mein
Arm ist gebrochen.« Jetzt fiel mir das Reden leichter. »Ich muss ihn …
fixieren.«
    Der Mann schüttelte wortlos den Kopf. Aber er wickelte ohne zu zögern
seinen Strickschal ab und reichte ihn mir. Während ich mir selbst einen
provisorischen Verband anlegte, schilderte ich ihm mit vielen Unterbrechungen
die letzten Stunden. Er hörte mir mit unbewegter Miene zu.
    »Keine Ahnung, wo Johanna Steiner jetzt ist«, schloss ich.
    Der Mann schlug seine Hände in den dicken Fäustlingen gegeneinander, um
sie zu wärmen. Dann sagte er: »Die wirre Hansi?« Er blickte den Hang hinauf, wo
die Welt in einem Schneewirbel zu enden schien. »So verrückt wird ‘s wohl nicht
sein, dass da hinauf is’.«
    Jetzt wusste ich, woher er mir bekannt vorkam. Ich hatte ihn an meinem
ersten Abend im Jagawirt gesehen. Er hatte mit dem Postenkommandanten am
Nebentisch gesessen. In geflickter grüner Strickjacke und Bergschuhen.
Natürlich kannte er die Schwester des Wirtes. »Sie haben keine Vorstellung
davon, wie verrückt sie wirklich ist«, sagte ich. »So, das muss jetzt erst mal
gehen.« Ich war mit meiner Notversorgung fertig. Obwohl ich meine Füße immer
noch nicht spürte, hatte ich das Gefühl, mit der Hilfe des Mannes ins Tal
absteigen zu können. »Haben Sie ein Handy dabei?«
    »Ein Handy? Wollen Sie telefonieren? Schauen wir lieber, dass wir hier
wegkommen.«
    »Aber wir müssen doch die Bergrettung rufen.«
    Der Mann schaute mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Die Bergrettung?
Das schaffen wir schon allein.«
    »Doch nicht meinetwegen«, sagte ich ungeduldig. »Wir müssen Hansi finden …«
Der Mann fing an zu lachen. Was war so lustig?
    »Sie … Sie, Fräulein.« Er hatte Mühe, seinen Heiterkeitsausbruch
unter Kontrolle zu bekommen. »Sie, da … da schauen S’ hinauf.« Er
zeigte in den bleifarbenen Himmel. »Da oben am Berg, da is’ jetzt die Hölle
los. Wenn ‘s da oben is’, die Hansi, dann kann ihr keiner mehr helfen. Das is’
Selbstmord.« Er klaubte seinen Bergstock aus dem Schnee.
    Warum glaubte er, dass die alte Frau diese Richtung eingeschlagen hatte?
Wie kam er nur darauf, dass Hansi in diese Richtung gelaufen sein könnte?
Vielleicht saß sie aber auch im Jagawirt auf der Ofenbank und strickte. Und
wartete auf die Todesnachricht. Die arme Frau Doktor, bei dem Wetter
hinauszugehen, ein echtes Stadtkind eben. Aber dann begriff ich. Was für ein
Dummkopf ich war. Natürlich war Hansi den Berg hinaufgelaufen. Hinauf zur
Geieralm. Das is’ Selbstmord. Ich
schluckte.
    Der Mann beobachtete mich. Sanft sagte er: »Bei dem Wetter is’ eine Suche
unmöglich. Da fliegt heut auch kein Hubschrauber mehr.«
    Das hatte Viktor erst vor ein paar Stunden gesagt. Eine Ewigkeit schien
das zurückzuliegen.
    »Vergessen S’ das.« Er packte meinen gesunden Arm. »So, und jetzt
gemma.«
    Widerstrebend setzte ich meine eisigen Glieder in Bewegung. Gestützt auf
meinen Lebensretter, stolperte ich durch den aufstäubenden Neuschnee zu Tal.
Schmerz und Kälte spürte ich kaum, aber meine Gedanken quälten mich. Ich sah
Hansi vor mir liegen, am Ende ihrer Kräfte. Die schlafende Schneekönigin in
ihrem Bett aus Eiskristallen. Beim Abstieg war mir manchmal, als kicherte
jemand hinter den Tannen. Doch dann war es wieder still, und nur unsere
knirschenden Schritte waren zu hören, als wir über ein Stück harschen Schnees
stapften. Langsam senkte

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