Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
manchmal sah er fast bittend auf sein Publikum, wie ein kleiner Junge, der Überlegene um Gnade bittet.
Seid doch nicht so.
Dann, etwas unsicher, mit einer Hand auf seiner steifen weißen Haarbürste reibend, gab er den geselligen Teil des Abends frei, das lustige Theaterstück mit Tanz bis in die späte Nacht.
Wulff hatte etwas erfahren über Elisabeth Lieplow aus Kröpelin. Sie war eine Führerin im B. D. M., und sie war im Dorf Beckhorst bei Gut Beckhorst unliebsam aufgefallen, nicht weil sie dort ihre Mädchengruppe in der einstweilen verbotenen Uniform aufmarschieren ließ, sondern weil sie das an einem Sonntagmorgen tat und ihren Untergebenen auf dem Brink von Beckhorst das Entkleiden zur Gymnastik befahl, eine halbe Stunde vor Beginn des Gottesdienstes, so daß die Kirchgänger alle vorbeimußten an einem Haufen knapp bekleideter Mädchen, die sich abzappelten mit Grätsche und Brücke rückwärts. Von Horst Papenbrock sagte er in diesem Brief nichts, weil er wußte, daß Lisbeth mitlas.
Hätten wir gestern vormittag in dem Café 52. Straße zwischen der Sechsten Avenue und Broadway gefrühstückt, hätten auch wir da sechs Männer und eine Frau, alles Neger so um Dreißig, auftreten sehen mit einer abgesägten Schrotflinte und Messern, die aus den Kassen und den Taschen der Gäste 3150 Dollar entnahmen und dann die Opfer aus schwarzen Sprühdosen mit einem Gas besprühten, das unfähig macht zu kämpfen, zu laufen, zu sehen. Die Wirkung war ähnlich der des Polizeigases Mace. Mace wird in schwarzen Dosen geliefert, aber nur an die Polizei und militärische Formationen. Die New York Times deutet eine Frage an.
Heute ist Yom Kippur. Seit Sonnenuntergang sitzen die Juden und knien in ihren Synagogen und Tempeln, mit Beten, Fasten und Rechenschaftslegung beschäftigt. »Kol Nidre« beginnt das Gebet mit der Bitte um Vergebung. Marie wünscht sich seit langem, ihre Freundin Rebecca zu einer solchen Veranstaltung zu begleiten, aber Rebecca würde sie auch ohne das Verbot von Mrs. Ferwalter nicht mitnehmen. Bei Ferwalters waren wir noch nie zum Essen eingeladen. Wir sind mit ihnen befreundet. Wir bleiben für sie die Goyim.
14. Oktober, 1967 Sonnabend
Auf der ersten Seite bringt die New York Times heute ein Bild, das im Vordergrund den allbekannten Antifaschisten Willy Brandt als Außenminister der Westdeutschen zeigt und, weniger scharf, hinter und über ihm den Chef der so genannten Christlichen Demokraten, der während der Herrschaft der Faschisten blind, taub und lahm gewesen ist. Auf der ersten Seite noch, am kostbaren Außenrand, hält die New York Times Stunde und erinnert uns: »Nach einer Folge von Beschlüssen durch die Alliierten in London und Jalta während des II . Weltkrieges war Deutschland geteilt worden.« So zieht sie dem Abstand von 6000 Kilometern Geschichte ein, so macht sie uns den hiesigen Aufenthalt angenehm.
Gewiß, unsere Heimat in der Oberen Westseite von Manhattan, sie ist eingebildet. Die unauflösliche Gewöhnung an die Gegend ist bloß unsere Seite, wir können nicht hoffen auf Erwiderung. Und doch, nur eine Stunde Spazierengehens durch das Viertel impft uns auf Jahre gegen einen Umzug. Der Busfahrer, der heute mitten im Regen auf uns wartet, er läßt sich wegwinken und hebt grüßend drei Finger gegen die zuklappenden Türflügel; gleich aufgehalten vom zupackenden Rotlicht, blickt er uns dennoch ohne Wut hinterher, freundlich, wie Nachbarn. Er würde uns fehlen. Der städtische Mast an der Ecke des Riverside Drive und der 97. Straße, wir mögen ihn nicht entbehren. Immer wieder zählen wir seine Lasten, begrüßen ihn wie einen Bekannten. Denn nicht nur hält er eine am Ende verdickte Peitsche, mit der er uns das Licht überzieht (wie ein Dichter sagt), er trägt auch die Schilder beider Straßen, zwei Ampelköpfe, das Zeichen der Einbahnstraße, obendrein sitzt ihm auf dem Kopf ein gelbes Lämpchen, der Hinweis auf den Feuermelder, der ihm auch noch um den Stamm gebunden ist. Die 97. Straße ist uns dicht an dicht besetzt mit Vergangenheit, mit Anwesenheit. Im nördlichen Eckhaus, hinter einem Fenster im zweiten (ersten) Stock, hat Caroline ihre Nähmaschine stehen, dahin gehen wir nähen. Auf der südlichen Seite sind zwischen dem Bürgersteig und den Häusern tiefe Gänge ausgebaut, und die puertorikanischen Kinder auf den Kellertreppen sind da nicht beim Spielen, sondern auf dem Weg in Wohnungen. Dort unten wohnen sie. Schräg gegenüber hielt uns vor Jahren eine alte
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