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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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anderen über die Höfe und die Ausgänge anderer Häuser, kam die Frau aus Breslau noch einmal herein, und die Versammlung dankte ihr dafür, daß sie den Tod der Mutter hergeliehen hatte.
    Cresspahl hatte dem Kind versprochen, noch einmal an ihr Bett zu kommen. Er blieb aber über die Nacht in Lübeck, und war erst am nächsten Vormittag in Jerichow. Das Abziehpapier, das er ihr mitgebracht hatte, konnte sie nicht trösten.

5. Februar, 1968 Montag
    Einmal, als die Stadt unter Schnee lag, führte de Rosny westeuropäische Besucher durch zwei Stockwerke der Bank und blieb vor der Zelle der Angestellten Cresspahl stehen und sagte: Nun noch ein paar Wölfe, und wir haben es wie in Ihrer Heimat!
    Die Angestellte Cresspahl war sitzengeblieben, da sie den Fremden nur gezeigt, nicht vorgestellt werden sollte, und hatte ihm auf das höflichste etwas vorgelogen von Füchsen, die einander bei Beidendorf eine gute Nacht wünschen, und war noch bis Mittag erholt von den Vorstellungen, die ein Vizepräsident unterhält von einem kommunistischen Land im allgemeinen, und von Mecklenburg im allgemeinen.
    Heute bedauerte er die Angestellte Cresspahl, weil er in der gestrigen Zeitung eine Aufnahme von der westlichen 97. Straße gesehen hat, eine Gruppe voller Mülleimer und darüber gehäufte Säcke mit Abfall, Folgen des Streiks in der Stadtreinigung. Er weiß nicht, daß in unserem Viertel neben den vernachlässigten Häusern auch solche übrig sind, deren Verwaltung selbst für die Verbrennung des Mülls sorgt; er wird auf abgesperrten Autobahnen in die Stadt gefahren und kennt von ihr ein Achtel. Die erheiternden Zweifel an der Allwissenheit des obersten Vorgesetzten, so erleichternd sie sind, laut und lebendig dürfen sie nicht werden. Die Angestellte Cresspahl war zum Bericht bestellt.
    Wer in de Rosnys Büro ist, glaubt sich in einem Haus voller Wohnungen, nicht über Maschinensälen, dicht umgeben von Käfterchen neben Käfterchen, in denen Leute mit Arbeit eingesperrt sind. Für sich hat de Rosny in der Bank einen Salon eingerichtet, das skandinavische Sofa neben dem Kapitänsschreibtisch aus der Segelschiffzeit, privates Licht aus grüngoldenen Lampenglocken, schwere königsblaue Vorhänge gegen die Ferienterrasse. Dazwischen bewegt sich de Rosny wie ein Gast in einem Hotel, schlenkrig in nahezu fremder Gegend, auf Abruf anwesend, mit unerschüttertem Vertrauen in seine Befehle. Seine Befehle versteckt er gern, und sei es in einer Verzögerung. Sein Wetterfaltengesicht behaglich locker, den Blauaugenblick müßig gehalten, so täuscht er Einladung und Willkommen vor und spricht nicht nur von den Auswirkungen des Müllarbeiterstreiks auf die Obere Westseite, sondern auch über den Krieg in Viet Nam, damit die Untergebene glaubt, es werde obendrein auf das eingegangen, was er für einen ihrer Tics hält.
    De Rosny hat die Erschießung eines gefesselten Verdächtigen durch den Brigadegeneral Nguyen Ngoc Loan im Fernsehen betrachtet und will sich nun endlich bekehrt haben zu der Meinung von Mrs. Cresspahl. (Sie hat keine Meinung gesagt.) Die grundsätzliche Bestialität von Kriegen. Und wenn man so auf dem Bildschirm sehe, was der Viet Cong anrichte, und höre, daß Washington die Offensive für einen Fehlschlag erkläre, so werde die Vertrauenslücke nicht eben verringert.
    Gewiß, Mr. de Rosny. So sagt es auch die New York Times, in einer Fernsehrezension. Und was das zugewiesene Arbeitsgebiet angehe –
    Am Ende sei die Times tatsächlich gegen eine Fortführung des Krieges. De Rosny ist nicht gesonnen, die Führung eines Gesprächs aufzugeben, verweilt ausführlich bei ungläubigem Kopfwiegen, und wer raten wollte, mochte ihn endgültig befinden sehen, daß die Angestellte Cresspahl durch die Sache in Viet Nam wirklich präokkupiert sei. Hat dergleichen schon am frühen Morgen auf der vorletzten Seite von 70 gefunden. Was wollte Mrs. Cresspahl sagen?
    Mit der Č. S. S. R. stehe es so, daß die Katze zumindest den Schwanz aus dem Sack habe, und daß vielleicht ein Mensch namens Dmitri Weiszand sie einfangen wolle, Mr. Vice President.
    – Tja: sagte de Rosny, genüßlich, befriedigt wie über einen gelungenen Plan. Unverhofft war er nicht mehr der gelernte Gastgeber, sondern ein Jäger, der verhängten Blicks, mit listigem Stirnrunzeln die nächste Schlinge auswählt. - Ich danke Ihnen: sagte er ernsthaft, wiederholte es geradezu ergriffen, blieb aber so verträumt sitzen, massierte sich mit den Knöcheln die

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