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Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Jahrestage 2: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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ging es abends. Cresspahl achtete darauf, daß Paap und die Arbeiter ihr Stück Fleisch auf dem Teller hatten, auch das für ihn war ihm recht; das Kind saß neben Lisbeth, zwei Schemel von ihm entfernt. Warum sollte eine Fünfjährige daran zweifeln, daß die Mutter ihr die Portionen nach bestem Wissen und Willen zumaß? Wie konnte sie Hilfe beim Vater einholen, wenn sie von der Mutter gründlich ermahnt war, ihn nicht zu belästigen? Bei dem Osterbesuch in Podejuch hatte das Cresspahlsche Kind mit den Paepckeschen gegessen, und Hilde hätte auffallen können, daß diese Gesine auf eine stille und versteckte Art auf ihren Teller und in die Schürzentasche zog, was sie nur greifen konnte; später erzählte sie davon. Die Pflichtjahrmädchen wußten wohl, daß das Kind der Herrschaft einen seltsamen Appetit am Leibe hatte und sich nur nicht traute, der Katze die eingeweichten Brotstücke aus dem Napf zu stehlen; Lisbeth hielt ihre Speisekammer pünktlich verschlossen, und wenn sie die Mädchen bei Zusteckereien erwischte, konnte sie mit recht kühlem Blick Einmischungen in die Erziehung des Kindes sich verbitten. Später sagten die Mädchen: Wenn sie einen so fremd ansah und die Augen ganz still hielt, es war zum Fürchten. Nicht nur Laien, auch Dr. Berling sah das Cresspahlsche Kind auf der Stadtstraße, ein nicht eben ausgemergeltes, aber mageres Wesen, das nach einem halben Jahr nicht gewachsen schien und etwas benommen in die Welt blickte. Louise Papenbrock bediente nicht mehr in der Bäckerei, bei den Verkäuferinnen mochte das Kind nicht betteln gehen, und der alte Papenbrock steckte ihr einen Bonbon nur noch heimlich zu, nachdem Lisbeth ihn dringend auf die Gefahr von Süßigkeiten für die Zähne hingewiesen hatte, wieder in der strengen, fremden Art, die sie sich angenommen hatte. Wenn das Kind sich den Magen mit unreifen Äpfeln vollgeschlagen hatte, war die Magenverstimmung ein Grund, es im Bett zu halten. Als das Kind zum ersten Mal eine Schüssel Kuchenteig auslecken durfte, war es sechs Jahre alt; aber Lisbeth holte solche Reste heraus mit einem weißen Gummispachtel, der nichts übrig ließ. Nicht nur das Essen, auch das Vergnügen wollte sie dem Kind verweigern. Wenn sie das Kind vorerst nicht opfern durfte, so wollte sie ihm doch mit Leiden Gutes tun. Es gab Ausnahmen, wie die Flasche Coca-Cola auf dem Schüsselbuden in Lübeck, wenn Lisbeth Mitleid hatte mit sich und dem vor Hunger blöden Kind; nicht oft. Das war im Oktober 1938 mehr als ein Jahr gegangen.
    Im Oktober 1938 beschwerte sich Hermann Liedtke bei Cresspahl, es sei sein Mittagsbrot öfter angebissen, wie von einer Katze. Liedtke wollte lieber das Geld als bei den Cresspahls am Tisch essen und brachte sich Stullen von zu Hause mit. Cresspahl ließ die Katzenklappe in der Werkstattür vernageln, Liedtke konnte ihm doch Bißspuren im Brot unter die Nase halten, wirklich wie von einer Katze. Cresspahl war drauf und dran, Schlösser für die Umkleideschränke auszugeben, denn er glaubte an Streit unter den Arbeitern eher als an die Katze; da traf er das Kind in der leeren Werkstatt. Sie hatte sich vom Frühstückstisch weggedrückt, sie hatte Liedtke weggehen sehen, nun stand sie an seinem Schrank und mümmelte vorsichtig an seinem Brot, so ängstlich vor Entdeckung, daß sie nach jedem Bröckchen das Pergamentpapier mit beiden Händen wieder zusammendrückte. Sie war damals nicht viel mehr als 100 Zentimeter groß, und erschrak sehr, als sie unverhofft an Cresspahl emporsah. Sie streckte ihm das Päckchen hin, das für ihre Finger zu ungefüge war, und sagte feige, bei niedergeschlagenen Lidern, hoch aufseufzend: Ick wull dat nich daun.
    Lisbeth sah das Kind freundlich an, das sich sehr für seine Eingeständnisse schämte; sie wollte jedoch nicht darüber reden. Cresspahl schickte das Kind aus dem Zimmer; Lisbeth wollte nicht darüber reden. Sah ihn klaräugig an, den Kopf unverzagt angehoben, mit der Spur eines Lächelns im Mundwinkel, als werde Cresspahl sie ohnehin nicht verstehen, wo sie jetzt war. Mit Gewalt hätte er aus ihr herausbekommen: Ich hab auch gehungert, Cresspahl; er versuchte es nicht mit Gewalt.
    Diesmal war es Cresspahl, der das Schweigen anfing und über eine Woche durchhielt; und Cresspahl nahm nun das Kind mit auf die Einkaufsreisen, auf den Flugplatz, und wenn er zum Essen auf dem Grundstück war, saß das Kind neben ihm, auf Lisbeths Platz. Er genierte sich sehr, wenn er dem Kind das Brot hinhielt und einen schamlos

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