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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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der Gräber nicht zu, vorerst. Er wollte das nicht den Toten zuliebe tun, nicht um ein paar Kartoffeln mehr in der Suppe, nicht um zu überleben; es ging ihm um die Beschäftigung. Zu der Zeit hatten Berufsmilitärs sich ernannt zur illegalen deutschen Leitung des Lagers, die redeten ihm die Zusage unter gelinden Drohungen aus. Sie konnten nicht darauf vertrauen, daß er die Zahlen im Gedächtnis behielt, und hielten ihn für eine Weile beim Appell in den hinteren Reihen fest, bis die Kapos nachgaben. Den Posten bekam ein Häftling, dem die Extraration und die Fahrt aus dem Lager besser gegönnt waren und der sich eine Überführung ins Lager Sachsenhausen wünschte, bloß wegen der größeren Nähe zu Berlin. Denn die Leute in den Begräbniskommandos wurden des Zählens verdächtigt und oft ausgewechselt oder abgeschoben in andere Lager, so daß die Totenlisten nur aus ungefähren Stücken zusammenzusetzen waren, für Fünfeichen die Ziffer 8500, nicht durchweg mit Namen verbürgt. So verlor Cresspahl eine Möglichkeit zur Flucht, bevor er es ahnte, die Kapos bekamen ihn nicht aus dem Lager und mußten die beiden Kumpane aus der alten Baracke doch abschieben; Cresspahl wurde abgefunden mit Vorrang beim Rasieren für einen Monat und war Niemand Dank schuldig. Hatte er das lernen sollen?
    Es war lange her, daß er mit Gedanken an Flucht umgegangen war. Zwar hatte er eine gesehen. Der Marsch nach Fünfeichen war mitten durch die Stadt Goldberg gegangen, da trat einer beim Abschwenken der Kolonne hinaus auf den Bürgersteig, faßte eine heftig verdatterte Bürgersfrau am Ellenbogen und nötigte sie unter lauten Wiedersehensreden zum Weitergehen mit ihm, – Mensch Elli! rief er in seinem Überschwang. Die Szene mochte den sowjetischen Wachen glaubwürdig genug ausgefallen sein, sie nahmen am Stadtausgang als Ersatz für den Flüchtling einen Zivilisten mit, der stand da in seinem Garten und grub. Cresspahl hatte eine Weile lang das Ordnungsprinzip der Roten Armee aufbewahrt, als Mitbringsel für Gesine; dann war das Läuschen in Fünfeichen ein paar mal zu oft vorgetragen worden, da mußte der Kleingärtner drei Kilometer hinter Goldberg erschossen werden wegen seines unverständigen Entsetzens, oder er saß noch heute in N 22 und begriff es nicht, mal hieß die Frau Herta, mal hatte der Abgänger gerufen: Du, Tante Frieda! Am Ende zweifelte Cresspahl, ob er die Geschichte wahrhaftig gesehen hatte.
    Flucht, Aufstand, Befreiung, dagegen war er nicht mehr empfindlich. Das Stück Land, das die Briten bei Ratzeburg von den Sowjets eingetauscht hatten, war im Gerücht von Fünfeichen angewachsen zu dem ganzen Streifen westlich einer Linie von Dassow über Schönberg bis zum Schaalsee, und wenn nicht für den nächsten Tag amerikanische Fallschirmjäger vor den Toren Fünfeichens erwartet wurden, so doch mindestens das Rote Kreuz von Schweden. Cresspahl erkannte bei den anderen die fiebrigen, rauschähnlichen Wirkungen der Latrinenparolen, für sich fürchtete er sie, denn ihm ging es oft so, wenn seine Gedanken so unheimlich in Abstand liefen von den Reden rund um ihn. Er hatte das Warnschild am Lagerzaun nie von vorn gelesen; ihm war ganz gewiß, daß westliche Militärkommissionen schon bei Burg Stargard und Neubrandenburg von mehrsprachigen Verboten ferngehalten wurden. Er begriff nicht, was die anderen von den ehemaligen Feinden erhofften. Die Belegschaft des Lagers wurde so regelmäßig umgeschaufelt, daß Spitzel nicht gleich erkannt wurden, so dicht sie auch die Baracken spickten; bei mehr als einem Beteiligten konnte eine Verschwörung als aufgeflogen gelten. Für sich selbst konnte er eine Flucht nicht einmal planen. Einmal auf dem anderen Ufer des Tollense-Sees, er hätte es vielleicht in neun Tagen geschafft bis zu der sagenhaften neuen Grenze Mecklenburgs; allein wo er die Kinder hätte abholen sollen, würden die Sowjets auf ihn warten, und war seine Flucht einmal bekannt, würden sie die Kinder festhalten. So war er in Fünfeichen weniger von ihnen getrennt. Und übrigens war eine Flucht aus Fünfeichen nicht zu denken.
    Fünfeichen war die Welt geworden. Das auswärtige Leben kam nicht herein.
    Es gab Abwechslungen. Das waren die Verschickungen in die Konzentrationslager Mühlberg, Buchenwald, Sachsenhausen, Bautzen, gut bekannt durch Zugänge. Wie Fünfeichen waren sie Ewigkeiten, die standen still. Auch den Tod konnte Einer sich vornehmen, freiwillig im Hunger, freiwillig im Zaun.
    Fünfeichen bot eine Menge

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