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Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 3 - aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Sammelteller an der Tür aufstellen. Das wär’s dann.
    Und wie bei den alten Zahlabenden legt ein Funktionär schnell drei Fünfer auf den Teller, um die späteren Beiträger zu täuschen. Mrs. Cresspahl lädt da einen Cent ab, wünschend, er wäre rot.
    25. Mai 1968 Sonnabend Tag der South Ferry
    In der Ubahnlinie IRT hat die Betriebsleitung, die große Hitze soll über sie kommen, je einen Ventilatorzwilling abmontiert! Wenn die Wagen an die krummen Plattformen unter dem Fährbahnhof kriechen, kreischend in der Enge, müssen die Passagiere in den vordersten Wagen durchgehen, anfangs zwischen finsteren Tunnelwänden, und innerhalb der Station müssen erst noch Stege gegen die Schwellen ausgefahren werden. Die Türen werden später geöffnet, und heute machte die stickige Luft die Sorge kräftig, sie würden gar nicht aufgehen.

    – So daß ich also zwei vorbestrafte Großväter hätte: sagte Marie, sobald wir auf dem Schiff waren. Sie versuchte die Neuigkeiten von ihrer Abstammung schurkig und im Übermut zu nehmen, solche Vorfahren waren ihr abermals bedenklich geworden. Was immer sie zu Hause hört, es hat doch nicht verfangen gegen die Lehren ihrer Schule, nach denen eine Verhaftung die Schuld schon beweist. Das sollte sie nicht lernen: das Denken des weißen Mittelstands. So denkt sie.
    – Jakobs Vater hat vor keinem Gericht gestanden, Marie.
    – In einem Soldatengefängnis war er, in Anklam, du gibst es zu. Hat er wenigstens den Kriegsdienst verweigert?
    – Es war vielleicht keine Handlung, wie sie dir gefiele. Und ich weiß sie nicht.
    – Dein Schwiegervater hätt er sein können. Mein Großvater ist das, Gesine.
    – Von ihm weiß ich den Jahrgang 1889, das Seminar in Neukloster, Brasilien in den zwanziger Jahren, die Inspektorstellen in Mecklenburg und Pommern, die Ziehung zur Wehrmacht 1943, das Gefängnis, was in den fünfzehn Jahren mit Jakob und seiner Mutter an Gespräch abfiel. Bis Jakob starb, hatte ich keine Eile mit Fragen. Bis Jakobs Mutter starb, mochte ich sie nicht drängen. Beide sprachen nicht freiwillig über Wilhelm Abs, und den Vornamen weiß ich erst aus dem Testament. Wenn ich den Geburtstag sagen sollte, könnte ich nur Juli sagen, und müßte das genaue Datum nachlesen.
    – Und wo er begraben ist?
    – Seine Frau hat bis zu ihrem Tod an seinen nicht glauben wollen. Wenn du willst, wird er in fünf oder sechs Wochen neunundsiebzig.
    – In der Sowjetunion. Wir würden ihn nicht erkennen.
    – Ein Fremder müßte dir doch recht sein, Marie.
    – Heute abend möchte ich mir den Geburtstag aufschreiben. Nicht zum Feiern, nur daß Eine von uns ihn weiß.
    – Und keine Vorstrafe.
    – Mach Cresspahl unschuldig, Gesine. Wenn du ein wenig lügen könntest.
    – Das Verhaftungskommando behandelte ihn erst einmal wie einen Unschuldigen. Er wurde in den Jeep nicht gestoßen, sie hielten ihm geduldig die Tür auf, bis er im Dunkeln einen Sitz fand. Er wurde nicht gefesselt, sie legten ihm eine Decke über. Es gab ein Gespräch über die Kühle, über die Nähe des Winters, Frostgefahr für die Kartoffeln. Als Cresspahl sie bat, ihn für fünf Minuten in sein Haus zu führen, schlugen sie es nicht grob ab, eher belustigt, wie jemandem, der neu ist in einer fremden Welt. Sie gaben ihm Machorka für seine Pfeife, wie einem Gast. Am Bahnhof Wehrlich sperrten sie ihn in einen Hühnerstall.
    – Nie konnte er das vergeben. Nicht einmal erzählen konnte er das!
    – Sie entschuldigten sich bei ihm. Sie mochten nicht weiter durch die Nacht, einer hatte einen Freund auf der Kommandantur Wehrlich, in der Försterei waren keine Zellen eingerichtet. Überdies sollte er von deutschem Personal nicht gesehen werden. Was hättest du anders gemacht mit solchem Gefangenen?
    – Lüg du nur weiter, Gesine. Und sie brachten ihm dahin ein Tablett mit Abendbrot.
    – Das mochten sie vergessen haben über der Freude des Wiedersehens mit dem Freund, über dem Fest. Cresspahl hörte ihre Stimmen bis spät in die Nacht, Singen und Trinksprüche, warum sollten die an einen Hühnerstall denken.
    – Nun die Flucht.
    – Das Schloß sollte die dahingegangenen Hühner nicht nur gegen den Fuchs schützen, auch gegen Räuber auf zwei Beinen, das war ohne Licht schwer zu knacken. Vor die Tür hatten sie ihren Jeep geschoben, den konnte er nicht umkippen. Ein Fenster gab es nicht, die Wände waren fest gemauert, das Schlupfloch war für Geflügel. Er mochte auch nicht gleich mit einer Flucht eine Schuld eingestehen.

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