Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
ist auch nichts aufgefallen, bis...«
Er brach ab, stöhnte und sah weg.
»Bis wann?«
»Bis vor kurzem.«
»Wann?«
Mainwaring antwortete nicht.
Milo wiederholte die Frage, diesmal schärfer. Mainwaring saß wie erstarrt.
»Sind wir in einer Sackgasse angelangt, Herr Doktor?«, brüllte er.
Es erfolgte keine Antwort.
»Also gut, Guy«, sagte Milo, öffnete sein Jackett, wobei man sein Pistolenhalfter sah, und fingerte an den Handschellen herum, die am Gürtel hingen. »Sie wollen also die Aussage verweigern, wollen wohl den Mund nicht aufmachen, bis Sie mit Ihrem Anwalt gesprochen haben. Tun Sie sich bloß den Gefallen und nehmen Sie einen Fachmann für Schwerverbrecher.«
Mainwaring verbarg das Gesicht in beiden Händen und beugte sich nach vorn.
»Ich habe nichts verbrochen«, murmelte er.
»Dann beantworten Sie besser meine Frage! Seit wann wissen Sie etwas über die Vergiftung?«
Der Psychiater setzte sich aschfahl auf.
»Ich schwöre, dass ich nichts damit zu tun habe. Erst nachdem … nachdem er geflohen war, schöpfte ich Verdacht. Auch wegen meiner Unterhaltung mit Delaware. Er hat mich über Drogenmissbrauch ausgefragt, ließ mich nicht in Ruhe wegen der Halluzinationen und der atypischen Reaktion auf Phenothiazin. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nie an so etwas gedacht, aber der Fall hatte sich derart seltsam entwickelt, dass ich anfing, darüber nachzudenken - besonders über Missbrauch von Drogen. Ich fragte mich, ob da etwas dran war.«
»Und zu welchem Schluss sind Sie gekommen?«, fragte Milo fordernd.
»Ich las Cadmus’ Akten durch. Dabei fielen mir Dinge auf, die ich übersehen hatte, bevor …«<
»Moment mal«, unterbrach ich ihn zornig. »Ich habe die Akten gelesen, dreimal, es stand nichts darin, woraus man auf eine Atropinvergiftung hätte schließen können.«
Mainwaring zitterte und faltete die Hände, als ob er uns anflehen wollte.
»Sie haben ja Recht. Es war nicht … es stand nicht in den Akten. Es war … eine späte Einsicht. Erinnerungen. Dinge, die ich nicht vermerkt hatte, Fakten, die ich hätte festhalten sollen. Widersprüche. Einander widersprechende Symptome. Abweichungen von der Norm. Gesichtsröte, Sinnesverlust, Verwirrung. Das viel zu frühe tardive Syndrom. Ich hatte gerade den Artikel über anticholinergische Syndrome geschrieben, und gerade das passierte vor meinen Augen. Ich fühlte mich wie ein blutiger Anfänger. Ein EEG in der Nacht seiner Einlieferung hätte mich darauf bringen müssen. Atropin verursacht abwechselnd beschleunigte und verlangsamte Gehirnaktivitäten, reduzierte Alpha- sowie verstärkte Delta- und Beta-Wellen. Wenn ich diese Wellenmuster gesehen hätte, ich hätte von Anfang an ihre Bedeutung erkannt. Aber das EEG wurde nie gemacht, weil der verfluchte Radiologe sich weigerte. Sie haben die Akten gelesen, Delaware, es steht drin. Sagen Sie doch, warum der Kerl das verhindert hat, los!«
Ich sah weg, um meinen Widerwillen zu verbergen, und richtete meinen Blick auf ein Seegemälde; in derart schmuddeligen Farben würde auch das Carmel-Kloster hässlich aussehen.
»Hören Sie mal, Guy«, sagte Milo verächtlich, »habe ich das richtig verstanden? Wollen Sie mir etwa weismachen, dass Sie, ein Experte, ein vereidigter, sachverständiger Oberbonze, hereingelegt worden sind?«
»Ja«, flüsterte Mainwaring.
»Das ist ungeheuerlich«, sagte ich.
Ein Blick Milos forderte mich auf, mich zurückzuhalten. Er beugte sich vor, bis sich seine Nase dicht vor der von Mainwaring befand. Dieser versuchte, ihr auszuweichen, wurde aber durch die Rückenlehne des Sessels daran gehindert.
»Also gut«, fuhr Milo fort, »lassen wir das im Moment beiseite. Sagen wir einfach, man hat Sie getäuscht.«
»Das ist zwar bitter, aber w…«<
»Sie denken doch nicht etwa, dass eine solche Unfähigkeit Sie entlastet?«, schnaubte Milo. »Gerade haben Sie zugegeben, dass Sie nach dem Gespräch mit Delaware Verdacht geschöpft haben. Sie wissen es also jetzt bereits eine ganze Woche. Warum haben Sie seitdem nichts getan? Wie konnten Sie denn das Kind die ganze Zeit weiter leiden lassen?« Er wedelte mit dem Notizblock vor Mainwarings Gesicht herum. »Ein schreckliches Leid, trostlos und voller Ängste, eine menschliche Hölle! Warum haben Sie nichts unternommen?«
»Ich … ich hatte das vor. Die ganze Zeit wollte ich etwas zu Papier bringen, überlegen, was ich machen könnte.«
»O verdammt, noch mehr Scheiße«, sagte Milo angewidert. »Wie viel hat
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