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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Es war Fletcher. Und indem er sich auf diese Weise weggab, löste sich sein leibliches Selbst allmählich auf. Brust, Hände und Lenden waren bereits verschwunden, Kopf und Hals saßen auf den Schultern, und die Schultern waren durch dünne, dunstige Stränge mit dem Unterleib verbunden, die Spielbälle für jede Laune des Feuers waren.
    Noch während sie hinsah, lösten auch sie sich auf und wurden zu Licht. Ein Kinderreim fiel ihr dabei ein. Ihr Verstand sang: Jesus will mich für einen Sonnenstrahl. Ein altes Lied für ein neues Zeitalter.
    Die Eröffnung dieses neuen Zeitalters näherte sich bereits ihrem Ende. Fletchers Leib war beinahe aufgelöst, sein Gesicht an Augen und Mund weggefressen. Der Schädel war
    aufgebrochen, das Gehirn schmolz zu Helligkeit und wurde aus seiner Mulde geweht wie ein Löwenzahn im Augustwind.
    Nachdem das Gehirn verschwunden war, lösten sich die
    noch verbliebenen Teile Fletchers einfach im Feuer auf. Da sie keine Nahrung mehr hatten, erloschen die Flammen. Kein Niederbrennen; keine Asche; nicht einmal Rauch. Eben noch Helligkeit, Wärme und Wunder. Im nächsten Augenblick
    nichts.
    Sie hatte Fletcher so eingehend betrachtet, daß sie nicht 343
    sagen konnte, wie viele Zuschauer von den Splittern getroffen worden waren. Ganz bestimmt viele. Möglicherweise alle.
    Vielleicht hinderte einzig ihre große Zahl den Jaff an Repressalien. Immerhin wartete seine Armee in der Nacht.
    Aber er hatte beschlossen, sie nicht zu rufen. Statt dessen machte er sich mit einem Minimum an Showeffekten aus dem Staub. Tommy-Ray ging mit ihm. Jo-Beth nicht. Während Fletchers Auflösung hatte sich Howie mit der Waffe in der Hand neben sie gestellt. Tommy-Ray konnte nichts weiter machen, als ein paar kaum verständliche Drohungen
    auszustoßen und seinem Vater zu folgen.

    Das war, im wesentlichen, der letzte Auftritt des Schamanen Fletcher. Selbstverständlich sollte es zu Nachwirkungen kommen, aber erst, wenn die Empfänger seines Lichts ein paar Stunden mit ihrer Gabe geschlafen hatten. Doch es gab unmittelbare Auswirkungen. Für Grillo und Hotchkiss die Befriedigung zu sehen, daß ihre Sinne sie bei der Erdspalte nicht getrogen hatten; für Jo-Beth und Howie das Wiedersehen nach Ereignissen, die sie beide dem Tode nahegebracht hatten; und für Tesla das Wissen, daß nach dem Dahinscheiden
    Fletchers eine große Verantwortung auf sie übergegangen war.
    Aber es war der Grove selbst, der die volle Wucht der nächtlichen Magie abbekommen hatte. Seine Straßen hatten Schrecken gesehen. Seine Bewohner waren von Geistern
    berührt worden.
    Bald würde es Krieg geben.

    344
    Fünfter Teil

    Sklaven und Liebhaber

    I

    l

    Jeder Alkoholiker hätte das Verhalten des Grove am nächsten Morgen gekannt. Es war das eines Mannes, der nachts zuvor eine Zechtour gemacht hatte und früh aufstehen und so tun mußte, als wäre nichts Unschickliches geschehen. Er würde sich ein paar Minuten unter die kalte Dusche stellen, um seinen Körper durch Schocktherapie wach zu machen, schwarzen Kaffee und Alka Seltzer zum Frühstück zu sich nehmen und danach mit einem nachdrücklicheren Gang als gewöhnlich und dem frostigen Lächeln einer Schauspielerin, die gerade bei der Oscar-Wahl verloren hat, dem Tag entgegentreten. An diesem Morgen wurde öfter Hallo und Wie-geht-es-Ihnen? gesagt, mehr Nachbarn winkten einander fröhlich zu, während sie mit den Autos zurückstießen, mehr Radios verkündeten
    Wetterberichte - Sonne! Sonne! Sonne! - durch Fenster, die weit aufgerissen waren, wie um zu beweisen, daß es in diesem Haus keine Geheimnisse gab. Einem Fremden, der an diesem Morgen zum ersten Mal in den Grove gekommen wäre, hätte es so vorkommen müssen, als würde sich die Stadt für die Rolle von Perfectsville, USA, bewerben. Die allgemeine Atmosphäre erzwungener Freundlichkeit hätte ihm den Magen umgedreht.
    Unten beim Einkaufszentrum, wo die Beweise der dionysischen Nacht kaum übersehen werden konnten, redete man über alles, nur nicht über die Wahrheit. Hells Angels waren von L.
    A. hergekommen, ging eine Geschichte, um Verwüstungen 345
    anzurichten. Mit jeder Wiederholung wurde die Geschichte glaubwürdiger. Manche behaupteten, sie hätten die Motorräder gehört. Ein paar gingen sogar soweit zu behaupten, sie hätten sie gesehen; sie verbrämten die kollektive Fiktion im sicheren Wissen, daß niemand Zweifel aussprechen würde. Am
    Vormittag waren das Glas schon völlig weggeräumt und
    Bretter vor die

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