Jenseits des Bösen
weggewischt hatte. Jetzt trauerte er um sie wie um Geliebte, die er verloren hatte, ohne sie je richtig gekannt zu haben, deren sämtliche Körperöffnungen er gesehen hatte, aber deren Intimität ihm verweigert worden war.
Doch kurz nach der Dämmerung, als seine Stimmung so tief gesunken war, wie er es noch nie erlebt hatte, kam ihm der seltsamste Gedanke: Vielleicht konnte er sie zu sich bringen; sie durch die schiere Hitze seines Verlangens Gestalt annehmen lassen. Man konnte Träume Wirklichkeit werden lassen.
Künstler machten das andauernd. Hatte nicht jeder etwas von einem Künstler in sich? Dieser kaum zu Ende gedachte
Gedanke hielt ihn vor dem Fernsehschirm fest, bei Die letzten Tage von Pompeji und Zur Lust geboren und Exzesse im Frauengefängnis; Filme, die er so gut wie seine eigene Vergangenheit kannte, die aber, anders als seine
Vergangenheit, auch in der Gegenwart leben konnten.
Er war nicht der einzige im Grove, der solche Gedanken hatte, 348
aber niemand sonst war so sehr aufs Erotische fixiert wie William. Derselbe Einfall - daß man eine wertvolle, essentielle Person, oder Personen, aus dem Verstand rufen und zum lebenden Gefährten machen konnte - kam jedem aus der
Menge, die sich am Vorabend vor dem Einkaufszentrum
eingefunden hatte. Stars von Seifenopern, Quizmaster, tote oder verlorene Verwandte, geschiedene Partner, vermißte Kinder, Comic-Figuren: Es gab so viele Namen, wie es
Gehirne gab, sie zu beschwören.
Bei manchen, zum Beispiel bei William Witt, kam die
Erscheinung ihrer Begierde so schnell in Fahrt - in mehreren Fällen von Besessenheit angefeuert, in anderen von Sehnsucht oder Neid -, daß zur Dämmerung des folgenden Tages bereits Klumpen in den Ecken ihrer Zimmer hingen, wo sich die Luft als Vorbereitung des Wunders verdichtete.
Im Schlafzimmer von Shuna Melkin, Tochter von Christine und Larry Melkin, machte sich eine legendäre Rock-Prinzessin, die vor ein paar Jahren an einer Überdosis gestorben, aber dennoch Shuna Melkins einziges Idol, ihre Besessenheit, war, durch leises Krächzen bemerkbar, das man für Wind in den Erkern hätte halten können, wenn Shuna die Melodie nicht gekannt haben würde.
In Ossie Lartons Blockhütte konnte man ein Kratzen hören, und er wußte mit einem inneren Lächeln, daß es sich um die Geburtswehen eines Werwolfs handelte, der ihm ein geheimer Gefährte war, seit er wußte, daß solche Kreaturen vorstellbar waren. Er hieß Eugene, dieser Werwolf, was - im zarten Alter von sechs, als Ossie seinen Gefährten erfunden hatte - ein angemesser Name für einen Mann zu sein schien, dem bei Vollmond ein Fell wuchs.
Bei Karen Conroy konnte man die drei Hauptdarsteller ihres Lieblingsfilms, Love Knows Your Name, einer kaum bekannten Schnulze, die sie sich während einer Reise nach Paris, welche schon lange zurücklag, sechsmal hintereinander weinend 349
angesehen hatte, als Hauch eines europäischen Parfüms in der Wohnung riechen.
Und so weiter, und so fort.
Am Nachmittag gab es niemanden mehr aus der Menge, der nicht den Eindruck gehabt hatte, als wären unerwartete Besucher gekommen - was selbstverständlich häufig abgetan oder ignoriert wurde. Die Bevölkerungszahl von Palomo Grove, die auf Befehl des Jaff um mehrere hundert Schrecken angestiegen war, sollte noch einmal ansteigen.
2
»Du hast schon zugegeben, daß du nicht verstanden hast, was gestern nacht passiert ist...«
»Es geht nicht darum, etwas zuzugeben, Grillo.«
»O. K. Werden wir nicht wütend aufeinander. Warum
schreien wir uns letztendlich immer wieder an?«
»Wir schreien uns nicht an.«
»O. K. Wir schreien uns nicht an. Ich bitte dich nur, an die Möglichkeit zu denken, daß dieser Botengang, auf den er dich geschickt hat...«
»Botengang?«
»Jetzt schreist du. Ich bitte dich nur, denk einen Augenblick nach. Dies könnte die letzte Reise werden, die du überhaupt unternimmst.«
»Möglichkeit akzeptiert.«
»Also laß mich mitkommen. Du bist noch nie südlich von Tijuana gewesen.«
»Du auch nicht.«
»Es ist hart...«
»Hör zu, ich habe Männern künstlerische Filme verkauft, denen Dumbo zu kompliziert war. Ich weiß, was hart ist. Wenn du etwas wahrhaft Nützliches machen willst, dann bleib hier 350
und werde gesund.«
»Ich bin schon gesund. Es ist mir nie besser gegangen.«
»Ich brauche dich hier, Grillo. Als Beobachter. Es ist noch längst nicht vorbei.«
»Und was soll ich beobachten?« fragte Grillo und legte den Streit bei, indem er
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