Jenseits des Bösen
Fletchers Anweisungen wie eine Antrittsrede eingeprägt, und auch diese erwiesen sich - in Verbindung mit der Karte - als hilfreich. Sie hatte die Halbinsel noch nie bereist und war überrascht, daß sie so verlassen war. In dieser Umgebung konnten der Mensch und seine Werke kaum auf Unterstützung hoffen, was sie zur Überzeugung brachte, daß die Ruinen der Mission, so 378
sie sie denn fand, wahrscheinlich erodiert oder in den Pazifik gespült sein würden, dessen Murmeln um so lauter wurde, je mehr sie sich der Küste näherte.
Mit dieser Vermutung hätte sie gar nicht falscher liegen können. Als sie um die Kurve des Berges fuhr, stellte sie sehr schnell fest, daß die Misión de Santa Catrina durchaus noch intakt war. Der Anblick erfüllte sie mit Nervosität. Noch ein paar Minuten Fahrt, und sie würde vor dem Ort stehen, wo eine die Welt verändernde Geschichte - von der sie nur den winzigsten Teil kannte - begonnen hatte. Für einen Christen hätte Bethlehem wohl ein ähnliches Gefühl erzeugt. Oder Golgatha.
Aber sie fand keine Stätte der Schädel. Ganz im Gegenteil.
Die Missionsgebäude waren zwar nicht wieder aufgebaut worden - die rußgeschwärzten Trümmer waren immer noch über einen weiten Teil verstreut -, aber jemand hatte offensichtlich darauf geachtet, daß der Rest vor weiterem Verfall bewahrt wurde. Der Grund für diese Erhaltung wurde erst deutlich, als sie das Auto ein Stück von dem Gebäude entfernt geparkt hatte und zu Fuß durch die staubige Einöde gegangen war. Die Mission, die für einen heiligen Zweck erbaut, dann verlassen und schließlich für ein Unternehmen genutzt worden war, das ihre Erbauer ganz gewiß als ketzerisch betrachtet haben würden, war erneut geheiligt.
Je näher sie den Mauern kam, desto mehr Beweise fand sie.
Zuerst Blumen, die als Sträuße und Kränze zwischen die verstreuten Steine gelegt worden waren und deren Farben in der klaren Seeluft bunt leuchteten.
Dann, vielsagender, kleine Haushaltsgeräte - ein Teller, ein Krug, eine Türklinke -, an die Stücke bekritzelten Papiers gebunden waren und die in solcher Vielzahl zwischen den Blumen lagen, daß sie kaum einen Schritt machen konnte, ohne darauf zu treten. Die Sonne ging langsam unter, aber die tiefen Goldtöne verstärkten nur noch den Eindruck, daß dieser Ort 379
nicht geheuer war. Sie schlich, so leise sie konnte, durch die Trümmer, weil sie Angst hatte, ihre Bewohner, menschlich oder sonstwie, auf sich aufmerksam zu machen. Wenn schon im Ventura County wunderbare Wesen waren - die obendrein unverhohlen durch die Straßen wandelten -, wieviel
wahrscheinlicher war es dann, daß sich hier, auf diesem einsamen Plateau, Wunderwirker aufhielten?
Wer sie sein und in welcher Gestalt - wenn überhaupt - sie auftreten mochten, daran wagte sie nicht einmal zu denken.
Aber wenn die Vielzahl der Geschenke und Gaben auf dem Boden etwas bewies, dann die Tatsache, daß Gebete hier erhört wurden.
Die Bündel und Botschaften außerhalb der Mission waren schon rührend, aber die im Inneren waren noch bewegender.
Sie trat durch eine Lücke in der Mauer in eine stumme Menge von Porträts: Dutzende Fotos und Zeichnungen von Männern, Frauen und Kindern waren an den Wänden befestigt,
zusammen mit einem Kleidungsstück, einem Schuh, manchmal sogar einer Brille. Draußen hatte sie Geschenke gesehen. Dies, vermutete sie, waren Gegenstände, an denen ein Bluthund-Gott schnuppern sollte. Sie gehörten vermißten Personen und waren in der Hoffnung hergebracht worden, daß die Mächte die verirrten Seelen wieder auf den rechten Weg führen und sicher nach Hause geleiten würden.
Während sie im goldenen Licht stand und die Sammlung betrachtete, kam sie sich wie ein Eindringling vor. Religiöse Zur-schaustellungen hatten sie selten, wenn überhaupt, je gerührt.
Die Empfindungen waren so selbstgefällig in ihrer Gewißheit, die Bilder so rhetorisch. Aber diese Beispiele schlichten Glaubens berührten einen Nerv in ihr, den sie schon lange abgestorben wähnte. Sie erinnerte sich, was sie empfunden hatte, als sie nach selbstgewähltem fünfjährigem Exil vom Busen der
Familie zum ersten Mal zum Weihnachtsfest nach Hause
zurückgekehrt war. Es war so klaustrophobisch gewesen, wie 380
sie erwartet hatte, aber als sie am Heiligabend um Mitternacht auf der Fifth Avenue spazierengegangen war, hatte ein vergessenes Gefühl ihr den Atem aus den Lungen und Tränen in die Augen getrieben: daß sie einst geglaubt hatte.
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