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Jenseits des Bösen

Jenseits des Bösen

Titel: Jenseits des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Dieser Glaube war aus dem Innersten gekommen. Er war ihr nicht gelehrt und nicht eingebleut worden, er war einfach da. Die ersten Tränen waren Zeichen der Dankbarkeit, daß sie wieder glauben konnte; die nachfolgenden Zeichen der Traurigkeit, weil das Gefühl so schnell verschwand, wie es gekommen war, wie ein Geist, der durch sie hindurchging und weiterzog.
    Diesesmal ließ es nicht nach. Es wurde noch stärker,
    während die Sonne dunkler wurde und dem Meer
    entgegensank.
    Geräusche von jemandem, der sich tief in den Ruinen
    bewegte, schreckten sie aus ihrem Nachdenken. Sie wartete verängstigt, bis ihr Puls wieder etwas langsamer schlug, dann fragte sie:
    »Wer ist da?«
    Keine Antwort. Sie ließ die Mauer der verlorenen Gesichter leise hinter sich und betrat durch eine Tür ohne Schwelle eine zweite Kammer. Diese hatte zwei Fenster, gleich Augen im Backstein, durch die die untergehende Sonne zwei rötliche Strahlen hereinschickte. Es war lediglich Instinkt, der ihre Ge-fühle untermauerte, aber sie spürte, daß dies das Allerheiligste des Tempels war. Es war zwar kein Dach mehr vorhanden, und die Ostwand war stark beschädigt, aber der Raum schien förmlich aufgeladen, als wären hier über mehrere Jahre hinweg Kräfte am Werk gewesen. Als Fletcher noch die Mission bewohnt hatte, hatte es offenbar die Funktion eines Labors gehabt. Überall lagen umgeworfene Tische, und die
    Ausrüstung, die heruntergefallen war, hatte man offenbar an Ort und Stelle liegenlassen. Weder Geschenke noch Porträts hatten die Aura dieses erhaltenen Saals stören dürfen. Sand hatte sich um die umgestürzten Möbelstücke angesammelt, hier 381
    und da wuchs Unkraut, aber die Kammer war noch so, wie sie gewesen war: Testament des Wunders - oder seines Vergehens.
    Der Beschützer des Heiligtums stand in der von Tesla
    entferntesten Ecke, jenseits der Lichtstrahlen, die durch das Fenster drangen. Sie konnte ihn kaum erkennen. Er trug entweder eine Maske, oder seine Gesichtszüge waren so breit wie eine Maske. Bisher hatte sie nichts erlebt, was sie um ihre Gesundheit fürchten ließ. Sie war zwar allein, verspürte aber keine Angst. Dies war ein Heiligtum, kein Ort der Gewalt.
    Außerdem war sie im Auftrag der Gottheit hier, die in eben dieser Kammer gearbeitet hatte. Sie mußte mit dem Aufseher sprechen. »Mein Name ist Tesla«, sagte sie. »Doktor Richard Fletcher hat mich hergeschickt.«
    Sie sah, daß der Mann in der Ecke mit einem leichten Heben des Kopfes auf die Erwähnung des Namens reagierte; dann hörte sie ihn seufzen.
    »Fletcher?« sagte er.
    »Ja«, antwortete Tesla. »Wissen Sie, wer er ist?«
    Die Antwort war eine Gegenfrage, die mit einem starken spanischen Akzent ausgesprochen wurde: »Kenne ich Sie?«
    »Ich sagte Ihnen doch«, meinte Tesla. »Er hat mich hergeschickt. Ich bin gekommen, um etwas zu erledigen, worum er selbst mich gebeten hat.«
    Der Mann ging so weit von der Wand weg, daß das Licht sein Gesicht erhellte.
    »Konnte er nicht selbst kommen?« fragte er.
    Tesla brauchte eine Weile, bis sie eine Antwort
    herausbekam. Der Anblick der wulstigen Stirn und flachen Nase des Mannes hatte sie durcheinandergebracht. Sie hatte einfach noch niemals so ein häßliches Gesicht gesehen.
    »Fletcher lebt nicht mehr«, antwortete sie nach einer Weile, und ihre Gedanken kreisten halb um ihren Ekel und halb darum, wie sie das Wort tot vermieden hatte.
    Die verzerrten Gesichtszüge vor ihr wurden traurig, aber ihre 382
    Derbheit machte den Ausdruck fast zur Karikatur.
    »Ich war hier, als er gegangen ist«, sagte der Mann. »Ich habe darauf gewartet, daß er... zurückkommt.«
    Kaum hatte er diese Information preisgegeben, da wußte sie, wer er war. Fletcher hatte ihr gesagt, daß es vielleicht noch einen lebenden Zeugen der Großen Arbeit gab.
    »Raul?« sagte sie.
    Die tiefliegenden Augen wurden groß. Aber es war kein Weiß darin zu sehen. »Sie kennen ihn wirklich«, sagte er und kam einen weiteren Schritt ins Licht, das seine Züge so grausam betonte, daß sie sie kaum ansehen konnte. Auf der Leinwand hatte sie tausendmal häßlichere Kreaturen als ihn gesehen - erst in der vergangenen Nacht hatte sie es mit einem Geschöpf aus einem Alptraum zu tun gehabt -, aber die verwirrenden Signale dieses Hybriden beunruhigten sie mehr als alles, was ihr bislang unter die Augen gekommen war. Er war beinahe ein Mensch, ganz knapp, doch ihr Innerstes ließ sich nicht täuschen. Die Reaktion lehrte sie etwas, sie war aber nicht

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