Jenseits des leuchtenden Horizonts - Roman
auf«, flüsterte er und nahm seine Tasche. »Und sei so leise, wie du kannst.« Sie standen auf und schlichen davon.
Statt im Flussbett zu marschieren, das stellenweise noch sehr schlammig war, folgten sie der Uferböschung in Richtung Alice Springs. Sie waren schon ein ganzes Stück weit gegangen, ehe sich Marlee zu sprechen traute.
»Gehen wir nach Hause, Jono?«, flüsterte sie, Vorfreude in der Stimme.
Jonathan sah sich immer wieder um, weil er sicher sein wollte, dass man sie nicht verfolgte. »Wir gehen zum Auto zurück«, sagte er. »Wo wir dann hingehen, weiß ich noch nicht genau.«
»Können wir denn nicht nach Hause zu Erin und Onkel Cornelius?«
»Sie sind nicht mehr da, Marlee.«
Einen Plan hatte Jonathan nicht. Seine drängendste Sorge war, vom Clan fortzukommen, ohne eingeholt zu werden. Er hatte keine Ahnung, was sie ihm antun würden als Strafe dafür, dass er ihnen Marlee weggenommen hatte, und er wollte es auch nicht erfahren.
Der Mond leuchtete schwach, sie sahen also kaum, wohin sie gingen. Als Orientierungspunkt behielt Jonathan stets das Flussbett im Blick, damit sie sich nicht verliefen. Doch durch Gestrüpp zu wandern war anstrengender als durch das Flussbett zu marschieren, vor allem in der Dunkelheit. Sie mussten über herabgefallene Äste, dornige Büsche und Steinbrocken klettern, und das Gelände war nicht gerade flach. So kamen sie viel langsamer voran. Hin und wieder wurden sie von einem Tier aufgeschreckt. Manchmal war es ein Känguru, das vor ihnen hin und her sprang. Einmal kreuzte ein Wombat ihren Pfad. Die bärenartigen Tiere sahen possierlich aus, nachts jedoch war es unheimlich, ihnen zu begegnen. Immer wieder schreckten sie die in den Bäumen schlafenden Kakadus auf, die kreischend die Flucht ergriffen. Jedes Geräusch brachte Jonathans Herz zum Rasen. Auch hatte er Angst davor, dass sie auf andere Aborigine-Lager stießen. Dass es entlang der Uferböschung andere Lager gab, wusste er, weil sie auf dem Hinweg an ihnen vorbeigekommen waren. Er hatte keine Ahnung, was passierte, wenn sich ihm jemand vom Stamm der Arrernte in den Weg stellte.
Als Marlee müde wurde, trug Jonathan sie wieder. Das verlangsamte ihr Fortkommen noch mehr. Er versuchte, leise zu sein, und wenn er auf einen trockenen Zweig trat, der geräuschvoll zerbrach, blieb er still stehen und hielt den Atem an, darauf horchend, ob er wohl jemanden aufgestört hatte, ehe er vorsichtig weiterging.
Die Stunden zogen sich dahin, und Jonathan überlegte schon, ob er die Stadt wohl verfehlt hatte. Das schien unmöglich, doch er entschied, es sei an der Zeit, im Flussbett weiterzumarschieren, damit er sich orientieren konnte. Marlee schlief, den Kopf an seine Schulter gelehnt. Sacht weckte er sie auf.
»Du musst jetzt allein gehen, Marlee«, sagte er. Er setzte sie ab und streckte den Rücken. »Von jetzt an laufen wir im Flussbett.«
Marlee stöhnte verschlafen, und Jonathan führte sie durch dieBäume auf das Flussbett zu. Zum Glück war es nur am äußeren Rand schlammig, an dem Ufer, das stets im Schatten der Bäume lag, in der Mitte war es sandig. Das Wasser war fast vollständig in die Erde gesickert, was das Vorankommen bedeutend vereinfachte.
»Ich hab Durst, Jono«, sagte Marlee. »Und Hunger auch.«
»Ich weiß. Mir geht es genauso«, erwiderte Jonathan. »Sobald wir in der Stadt sind, werden wir etwas essen und trinken.«
Jonathan sah die ersten Strahlen des Morgenlichts den östlichen Himmel durchbrechen, daher wusste er, dass sie etwa sechs Stunden unterwegs gewesen waren. Sie kamen an zwei Gruppen von Aborigines vorbei, die am Flussufer lagerten und jetzt erwachten. Das bedeutete, Marlees Familie wusste inzwischen, dass sie fort waren. Sie mussten weiter. Sie mussten zum Auto kommen.
Als die Stadt endlich in Sicht kam, war Jonathan hochbeglückt. Er schaute noch einmal zurück, wie er das Hunderte von Malen getan hatte, aber niemand folgte ihnen. Nur noch ein kleines Stückchen, und sie wären in Sicherheit.
Weil niemand sie von Weitem sehen sollte, gingen sie nun am Rand des Flussbettes unter den Bäumen entlang. Als sie das Haus erreichten, tranken sie ausgiebig von einem draußen angebrachten Wasserhahn. Marlee setzte sich erfreut mit ihrem Teddy auf ihre Schaukel, während Jonathan sich davon überzeugte, dass die Türen verschlossen waren und keines der Fenster offen stand. Er wollte sicher sein, dass Bojan Ratko nicht am Haus gewesen war. Die Scheibe des Küchenfensters war noch nicht
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