Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
ich mir allein. Dachte ich, als ich mir einen Flug nach Island kaufte von dem Rest des Geldes, das sie mir gegeben hatte.
Von Jordi hatte ich mich nie verabschiedet. Nachdem er erfolglos versuchte, mich telefonisch zu erreichen, stand er einmal bei uns vor der Tür, und Arndís sagte ihm, dass ich zurück nach Island gegangen sei. Ich hatte ein Recht auf Geheimnisse. Ein Recht auf mein Leben. Ein Recht darauf, allein zu sein.
Und das war ich dann auch.
*
Nachdem Helgi im Schulgebäude verschwunden ist, fahre ich direkt in den nächsten Verbrauchermarkt, genervt davon, dass ich schon wieder mitten im Weihnachtsgeschäft so spät dran bin. Ohne Frühstück aus dem Haus gegangen zu sein, macht die Sache auch nicht besser. Ich werde immer dünner, während die Nagetiere in meinem Magen immer dicker werden. Jetzt werde ich es schaffen, dass Ragnheidur Kjærnested das Bärenbuch nimmt. Jetzt oder nie.
Sie holt tief Luft. Legt mir die Hände auf die Schultern und sieht mich an. Ob sie außer grünem Star noch andere Augenkrankheiten hat? Ihre Augen stehen unglaublich hervor. Noch mehr betont werden sie dadurch, dass sie ihre ledrige Gesichtshaut mit den Haaren straff nach hinten gezogen hat. Ihr Haarknoten sieht steinhart aus, wie ein kleiner Fels.
Sunna, so heißen Sie doch, oder?
Ja.
Und Sie erinnern sich daran, dass ich mit Valgardur verschwägert bin?
Ja.
Ich will Ihnen nämlich etwas erzählen, aus dem einfachen Grunde, weil ich annehme, dass Ihnen sonst niemand irgendetwas erzählt. Neulich habe ich ihn bei einem Adventskaffee getroffen. Valgardurs Frau war auch da, diese Deutsche, Ulrike Jónsson. Denn wie Sie sicher wissen, sind die beiden gerade im Lande, um sein Buch zu präsentieren.
Ja.
Die ist fast vom Sofa gefallen vor lauter Lachen. Ragnheidurs Augen kommen mir immer weiter entgegen.
Häh?
Sie hat erzählt, wie Valgardurs Verleger, diese beiden Brüder, auf der Frankfurter Buchmesse so viel Apfelwein getrunken hatten, dass sie sturzbetrunken dieses durchgeknallte Bärenbuch von einem Althippie am nächsten Messestand kauften und sich im Rausch sogar vertraglich verpflichteten, zweitausend Exemplare davon zu drucken. Sie hätten hören sollen, wie Ulrike über dieses Buch hergezogen hat. Kifferliteratur, hat sie gesagt und sich köstlich darüber amüsiert.
Es ist ja schließlich kein Geheimnis, dass Dagbjört, Ihre arme Lektorin, kaum mitbestimmen kann, welche Bücher der Verlag macht. Die ist doch nur zur Zierde da, die müsste eine ganze Schiffsladung Apfelwein trinken, bevor sie so ein bizarres Buch kauft wie zum Beispiel das von diesem Dieb, das Sie letztes Mal erwähnt haben.
Ich seufze gequält, die Augen starr auf Ragnheidur Kjærnested gerichtet. Schwanke und greife nach der Tischkante.
Kann ich ein Glas Wasser haben? Mir ist nicht ganz wohl.
Wenig später sitze ich in der Kantine des Verbrauchermarkts, während Ragnheidur Kjærnested mir einen Tee kocht. Sie macht sich bereit, weiter über Kifferliteratur zu lästern, aber ich hebe die Hände, um ihr zu signalisieren, dass ich genug gehört habe, und sie schmunzelt verständnisvoll.
Eigentlich ganz gemütlich hier. Zwei ältere Frauen sind damit beschäftigt, eine Salatbar zu bestücken, ein Junge und ein Mädchen in blau gestreiften Kitteln plaudern über einer Cola, und im Radio spekulieren Politiker über den möglichen Ausgang eines möglichen Krieges.
Das Gerede summt in meinen Ohren, ich erschrecke, als Ragnheidur mit einem Seufzer hervorstößt, wie sprachlos sie dieses Kriegsgerede mache. Dann sagt sie nachdenklich, während sie Honig in meinen Tee rührt: Allzu oft passieren die schlimmsten Dinge, weil die Leute keine Entscheidungen treffen wollen, denn dann müssten sie ja unweigerlich Verantwortung übernehmen. Ich weiß, wovon ich rede, schließlich besteht mein ganzer Beruf daraus, Entscheidungen zu treffen.
Interessieren Sie sich für das, was in den Nachrichten kommt?
Wie man das eben so tut. Ich bin natürlich die meiste Zeit hier, sagt sie, fischt ein bordeauxrotes Zigarettenetui aus der Tasche und zündet sich eine Zigarette an. Saugt den Rauch tief ein, betrachtet mich und sagt: Aber bei manchen Sachen, da kann man gar nicht anders, die bekommt man einfach mit.
Haben Sie etwas von diesen Ausländern gehört, nach denen die Polizei fahndet? Ich unterdrücke ein Jammern, als mein Magen sich zusammenzieht.
Ragnheidur nimmt einen weiteren Zug. Da muss ich Sie enttäuschen. Ich habe den Eindruck, es wird dauernd
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