Jenseits des Spiegels
Verwerfliches. „Ist doch gut. Andere sollten sich von euch auch mal eine Scheibe abschneiden.“
Kovu grinste so halb. „Deswegen ist mein Papá, oder auch Wulf heute alleine. Ein paar Jahre nach meiner Geburt gab es im Lager eine Seuche, an die wir viele unserer Leute verloren haben. Meine Mamá war darunter, und meine Tante, die Mamá von Isla. Prisca hat ihren Gefährten verloren, um nur mal ein paar zu nennen.“ Er seufzte schwer. „Jedenfalls, jeder Lykaner ist auf der Suche nach dem einen Stück, das einen vollkommen macht, und wenn dieses Stück verschwindet, bleibt man nur halb zurück, verstehst du?“
„Ja, und irgendwie finde ich es traurig. Ich meine schon klar, wenn der Partner verstirbt, dann ist das natürlich Scheiße, aber den Rest seines Lebens allein sein zu müssen, ist auch nicht gerade der Burner.“
Wir hielten kurz an den Schaufenster eines Buchladens, ohne wirklich etwas zu sehen, bevor wir weiter gingen.
„Das vielleicht nicht, aber das ist bei uns nun mal so. Es ist nicht so, dass es verboten ist sich jemand anderes zu suchen, wir können nicht. Auf der ganzen Welt gibt es nur einmal diesen Teil, der einen zu einem Ganzen macht, und wenn der verschwunden ist, dann gibt es für uns keinen Grund weiter zu suchen.“
„Ihr seid wie richtige Wölfe“, überlegte ich laut, und hielt mit Kovu an der Straße. Zwei Lichtkugeln schwebten vor uns, aber nur die rote leuchtete gerade.
„Was ich versuche damit zu sagen“, führte er weiter aus, „ist, dass jeder Lykaner auf der Suche nach dem Partner fürs Leben ist, nur nicht der Testiculus, ihm ist es verboten, sich eine Gefährtin zu suchen.“ Die rote Ampellichtkugel verlosch, und dafür leuchtete die grüne auf. „Er darf auch keinen Sex haben, nicht vor seinen Fünfundzwanzigsten Lebensjahr.“
„Er darf nicht lieben?“ Kein Wunder, dass Veith sich von allem und jedem so zurückzieht. Das war ja schon unmenschlich.
„Er hat sich selber dafür entschieden“, sagte Kovu. „Ein Testiculus wird nicht bestimmt, er entscheidet sich aus eigenem Antrieb heraus dafür.“
„Was?“ War das sein Ernst? „Veith möchte keine Gefährtin?“
Kovu klappte den Mund auf, nur um ihn gleich wieder zu verschließen.
„Was?“
Er seufzte. „Tu mir leid, ich darf es dir nicht sagen. Eigentlich habe ich bereits zu viel erzählt. Es ist etwas, dass nur uns Lykaner etwas angeht.“
„Und ich bin keiner von euch“, kam es betrübt über meine Lippen. Ich gehörte nicht zu ihnen, und würde es auch niemals tun.
Kovu stieß mich leicht mit der Schulter an. „Ich wollte dir bloß klarmachen, dass Veith nicht der gefühlskalte Arsch ist, für den er sich gerne ausgibt. Ganz im Gegenteil. Und er mag dich.“
Das ließ mich mehr als nur spöttisch schnauben. „Aber sicher doch.“
„Du glaubst mir nicht?“
„Natürlich nicht.“ Der Gedanke an einen Veith der mich mochte, war nicht nur absurd, er war geradezu grotesk.
„Es ist aber so.“
„Ach, hat er das gesagt?“
Wir erreichten mit einem Haufen anderer Wesen zusammen die andere Straßenseite, und hielten uns dann rechts. In dieser Gegend war ich auch noch nie gewesen, aber es war interessant, mal ein wenig mehr von Sternheim zu sehen. Auch wenn ich momentan mehr an unserem Gespräch interessiert war. Veith mochte mich? Dieser Gedanke war ziemlich irreal.
„Nein, das nicht, aber man merk es an seinem Verhalten. Er hat sich gestern auf dem Dachboden zu uns gesetzt, und dich nicht angeknurrt, als ich dich mit in sein Zimmer genommen habe. Sogar seine Hatzelteilchen mit dir geteilt. Das macht er nicht bei jedem.“
Mehr als meine Skepsis bekam Kovu dafür nicht. Das waren keine Beweise. Sowohl auf dem Dachboden, als auch in seinem Zimmer war der Kleine dabei gewesen, und nur deswegen war der große, böse Wolf so handzahm gewesen. Und die Hatzelteilchen hat Kovu mir praktisch in den Mund gestopft, da wäre es schon ziemlich dämlich von Veith, mich dafür anzuknurren, dass ich sie nicht gleich wieder ausspuckte.
„Du glaubst mir nicht“, erkannte er ganz richtig.
„Ich denke dass du daran glaubst, was du sagst, aber das heißt noch lange nicht, dass es auch den Tatsachen entspricht. Auch wenn du …“ Der Rest meiner Worte ging auf halbem Wege zum Mund verloren, weil mir etwas ins Auge stach, das in mir ein Gefühl von Vertrautheit auslöste. Ein großes Schild über dem Eingang eines Ladens.
Arche
hieß das Geschäft, und durch die Glasfront war eine Zoohandlung
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