Jenseits von Feuerland: Roman
häufiger und immer länger vor Greta geflohen war. Sie verstand auch den Streit zwischen Elisa und Greta, kurz bevor Greta das Haus angezündet hatte. Cornelius hätte sie, Greta, nie geliebt, hatte Elisa zu Greta gesagt. Nur aus Mitleid wäre er bei ihr geblieben.
Noch fester biss sie sich auf die Lippen, noch mehr Blut floss über ihr Kinn.
Sie wusste nicht, was schlimmer war: Dass ihr Vater, ihr geliebter Vater nicht ihr Vater war. Oder dass Greta mit dem eigenen Bruder …
Jetzt erst fiel ihr wieder ein, was Annelie noch zu Barbara gesagt hatte, und wieder traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag.
»Mein Gott!«, hatte Barbara gerufen. »Wenn ich geahnt hätte …«
»Du darfst es niemandem sagen!«, war Annelie ihr ins Wort gefallen. »Keiner darf es je erfahren! Viktor … Viktor hat Greta damals Gewalt angetan. Du weißt doch, er war nicht ganz richtig im Kopf. Er hat sie geliebt, und zugleich hat er sie gehasst. Hinterher hat er sich vor lauter Scham erhängt.«
»Mein Gott!«, hatte Barbara abermals ausgerufen.
»Cornelius hat damals ein großes Opfer erbracht, als er sich Gretas und ihres ungeborenen Kindes annahm. Er wollte ihr die Schande ersparen – und dem Kind eine Zukunft bieten. Barbara, versprich mir, du musst dieses Geheimnis für dich behalten! Emilia und Manuel könnten nicht glücklich werden, wenn die Wahrheit offenbar würde! Nur deswegen leben Elisa und Cornelius nicht hier – damit nie auch nur der Verdacht entsteht, Manuel könnte sein Sohn sein.«
»Aber … aber machst du dir keine Sorgen? Ich meine, das alles bedeutet, dass Emilia aus Inzest hervorgegangen ist. Sie … sie könnte krank sein. Oder genauso verrückt wie Viktor. Auch Greta war nicht ganz normal.«
»Greta haben die Umstände zu dem gemacht, was sie ist«, hatte Annelie erklärt. »Und Emilia ist ein starkes, junges, gesundes Mädchen. Ich kenne sie von klein auf – man … man merkt es ihr nicht an.«
»Aber wenn sie mit Manuel Kinder bekommt? Denkst du nicht, dass …?«
»Das liegt in Gottes Hand.«
Nach einem langen Schweigen hatte Barbara versprochen: »Ich werde nichts sagen. Ganz gewiss werde ich nichts sagen.«
Emilia wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seitdem die Frauen das Zimmer verlassen hatten, ob nur wenige Minuten oder gar Stunden. Immer noch öffnete sie die Truhe nicht ganz, schlug mit dem Kopf stattdessen gegen den Deckel, bis ihr der Schädel brummte und der eine Schmerz den anderen betäubte.
Als sie sich schließlich doch erhob, schien der Körper nicht ihr zu gehören. Alle Glieder fühlten sich taub an, begannen dann, als Blut hineinfloss, zu kribbeln, als würde Ungeziefer darüber laufen. Sie achtete nicht darauf, sondern stürzte die Treppe hinunter und lief ins Freie. Dass sie Barbara und Annelie in die Arme laufen oder ein anderer sie in dem Hochzeitskleid sehen könnte, kam ihr gar nicht in den Sinn. Sie setzte nur Fuß vor Fuß, schneller, immer schneller, ohne zu wissen, wohin es sie eigentlich trieb. Sie kam erst wieder zu sich, als sie im Wald war – stehen bleiben konnte sie jedoch auch dann nicht. Der Saum des Kleides blieb an einer Wurzel hängen, aber sie lief weiter und achtete nicht darauf, dass der feine Stoff zerriss. Äste schienen nach ihr zu greifen, ihr Haar und die Spitzen des Kleides verhedderten sich darin, doch sie ließ sich nicht aufhalten. Ihr Gesicht, eben noch glühend heiß, wurde im Schatten der Bäume kalt, der Schweiß trocknete, auch das Blut, das ihr über das Kinn getropft war. Sie hatte nicht einmal versucht, es fortzuwischen, tat es auch jetzt nicht. Sie rannte, rannte und rannte, zunächst durch einen der Buchenwälder, zwischen denen vereinzelt Myrten, Lorbeer- und Lebensbäume wuchsen, später an den riesigen Araukarien vorbei, die sämtliches Licht abschnitten. Einmal lief sie in eine Schlingpflanze mit roten Blüten. Wie eine Schlange schien sich jene um ihren Leib zu winden – zu Fall brachte sie sie jedoch nicht. Sie riss sich los, sah, dass das Kleid nun grün und braun befleckt war, doch es war ihr gleich.
Schließlich erreichte sie eine Lichtung, die von wilden Quittenbäumen gesäumt war. Vögel sangen ein hohes, melodisches Lied, das Moos war weich, die Büsche saftig grün, die kleinen Blüten, die darauf wucherten, rot und blau und gelb.
Ja, die Welt war bunt und lebendig, das Leben, das sich den Winter über in der Tiefe des Erdreichs verkrochen hatte, brach allerorten hervor. Doch sie selbst fühlte sich
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