Julia Extra Band 366
Blut in den Adern, wenn er sich nur vorstellte, wie seine elfjährige Tochter allein in der Großstadt herumgelaufen war. Zwar hielt sich Gabby für sehr erwachsen, und in mancher Hinsicht war sie das auch, aber in anderer Hinsicht war sie noch sehr kindlich für ihr Alter. Worüber er froh war. Nur machte sie das verletzlich.
„Gabbys Benehmen ist inakzeptabel …“
„Ich finde es inakzeptabel, dass Sie anscheinend keine Ahnung haben, warum meine Tochter das Bedürfnis hatte wegzulaufen.“
„Teenager …“
„Meine Tochter ist elf.“
„Und wie Sie wissen, habe ich mich nicht wohl dabei gefühlt, sie eine Klasse überspringen zu lassen. Ein intelligentes Mädchen, natürlich … trotzdem …“
Verärgert blendete Santiago den Rest der Rede aus. Zusammengefasst besagte sie „nicht meine Schuld“. In kaltem, scharfem Ton unterbrach er den Direktor schließlich. „Also begleitet Miss Murano sie auf der Fahrt.“
„Ja. Und Sie sorgen dafür, dass sie am Bahnhof abgeholt wird?“
Santiago, der vorhatte, seine Tochter selbst abzuholen, murmelte eine zustimmende Antwort und legte auf.
Als er sein Arbeitszimmer verließ, stieß er beinahe mit seinem Pferdepfleger zusammen. Der Mann redete so unzusammenhängendes Zeug, dass Santiago mehrere Minuten brauchte, um zu verstehen, worum es ging. Blinde Wut packte ihn.
„Die Engländerin ist mit Santana ausgeritten? Und wohin?“ Santiago rannte los und ließ seinem Zorn freien Lauf, damit er die albtraumhaften Szenen in Schach halten konnte, die sich in seinem Kopf abspielten. Das passierte ihm nicht noch einmal! Es durfte nicht passieren!
Zufällig stand das Pferd seines Bruders gesattelt im Hof. Santiago löste die Zügel vom Pfosten und schwang sich in den Sattel.
Während er in Richtung des Waldweges galoppierte, legte er sich die Worte zurecht, mit denen er die Frau fertigmachen würde. Er stellte sich gerade vor, wie sie mit gesenktem Kopf völlig gedemütigt vor ihm stand, als Santana mit fliegender Mähne an ihm vorbeigaloppierte.
Vor Entsetzen wurde ihm eiskalt, und jeder Gedanke an Vergeltung war vergessen. Streng hinderte er Ramons erschrockenes Pferd daran, dem Hengst zu folgen, beruhigte es und ritt weiter.
Minuten später kam er aus dem aufgeforsteten Waldstück heraus. Was er sah, war eine Szene aus seinem schlimmsten Albtraum.
Santiago saß ab und ließ das Pferd zum Grasen zurück. Von großer Angst gepackt, rannte er zu der Stelle, wo die reglose Gestalt lag.
7. KAPITEL
Es war wieder passiert.
Santiago zwang sich, sie anzublicken. Ihr Gesicht war blass. Sie wirkte wie eine Statue aus Eis.
Das Blut würde kommen, und sie würde kalt werden. Er erinnerte sich an das Blut. In seinen Träumen sah er es oft. Sah die roten Flecke auf ihrem Mund und wusste, dass es seine Schuld war. Weil die süße, sanfte Magdalena ihn hatte beeindrucken wollen.
Lucy hörte die Schritte auf dem harten Boden näher kommen, während sie dort lag. Der Sturz hatte ihr den Atem verschlagen. Es brannte wie Feuer in ihrer Brust, wenn sie versuchte, Luft zu holen. Sie wartete, bis es nicht mehr so wehtat, bevor sie die Augen öffnete – und die glänzenden italienischen Lederschuhe erblickte. Sie brauchte nicht weiter an der eleganten grauen Hose hochzuschauen.
Ausgerechnet er musste sie in dieser peinlichen Lage finden.
Die Erleichterung, die in ihm aufgewallt war, als er ihre Lider zucken sah, wich schnell einer rasenden Wut. Jetzt rührte sich Lucy, und Santiago zitterte am ganzen Körper von der Anstrengung, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten, die der Anblick des scheinbar leblosen Körpers wachgerufen hatte.
„Lieg still!“, schrie Santiago, der an eine mögliche Rückenmarkverletzung dachte.
Musste der Mann alles wie einen Befehl klingen lassen? Wild entschlossen, nicht länger dazuliegen, während Santiago verächtlich auf sie hinuntersah, setzte sich Lucy auf. Sie biss die Zähne zusammen, um nicht aufzustöhnen.
„Ich bin nur außer Atem …“, keuchte sie kaum hörbar, während sie ihren Reithelm abnahm und ihn neben sich legte.
Santiago beobachtete, wie ihr das vom Helm befreite blonde Haar über den Rücken fiel. Wie seidenweich es sich angefühlt hatte … Er wollte die Erinnerung verdrängen, doch sie blieb so unerklärlich haften, dass er es an den Fingerspitzen zu spüren glaubte.
Sich des wütenden Mannes äußerst bewusst, der über ihr aufragte, strich Lucy ein Grasbüschel von ihrer ehemals weißen Bluse. Warum sagte er
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