Julia
Comandante.
»Weil ich Hunger habe«, antwortete Romanino.
»Hier ...« Der Comandante holte den Rest seines Geldes heraus. »Kauf dir davon etwas zu essen.«
Doch der Junge schob seine Hand weg und sagte: »Ich bin kein Bettler.«
Daraufhin erlaubte der Comandante dem Jungen, seinen Karren die ganze Strecke bis zum Palazzo Marescotti zu ziehen. Hin und wieder, wenn der Junge sich allzu sehr abmühen musste, half er ihm und versetzte dem Karren einen kleinen Schubs. Als sie schließlich das Tor erreichten, blickte der Junge zu den Adlerornamenten an den Wänden empor und verkündete: »Hier ist mein Vater geboren.«
Bestimmt kann sich jeder vorstellen, welch ein Schock es für den Comandante war, das zu hören. Aufgeregt fragte er den Jungen: »Wie kommst du darauf?«
»Meine Mutter hat mir immer Geschichten über ihn erzählt«, antwortete der Junge. »Von ihr weiß ich, dass mein Vater sehr tapfer war, ein großer Ritter mit sooo dicken Armen. Aber dann musste er mit dem Kaiser im Heiligen Land kämpfen und ist nie zurückgekommen. Sie hat immer gesagt, dass er vielleicht eines Tages zurückkehren und nach mir suchen wird. Und wenn es endlich so weit ist, muss ich ihm etwas sagen, damit er weiß, wer ich bin.«
»Was musst du ihm denn sagen?«
Der Junge grinste, und schon in dem Moment, allein aufgrund dieses Lächelns, kannte der Comandante die Wahrheit, noch ehe er die Worte hörte: »Dass ich ein kleiner Adler bin, ein aquilino.«
An diesem Abend saß Comandante Marescotti in der Küche am Tisch der Dienstboten, die es nicht mehr gab, und aß zum ersten Mal seit Tagen wieder etwas. Ihm gegenüber war Romanino zu sehr damit beschäftigt, an einem Hühnerbein zu nagen, um irgendwelche Fragen zu stellen.
»Wann«, begann der Comandante, »ist denn deine Mutter Rosalina gestorben?«
»Vor langer Zeit«, erwiderte der Junge, »bevor das alles losging. Er hat sie geschlagen, müsst Ihr wissen. Eines Tages ist sie nicht mehr aufgestanden. Er hat sie angeschrien und an den Haaren gezogen, aber sie rührte sich nicht. Sie rührte sich überhaupt nicht mehr. Da hat er angefangen zu weinen. Ich bin zu ihr hin und habe mit ihr geredet, aber sie hat die Augen nicht aufgemacht. Ich habe meine Hand auf ihr Gesicht gelegt und gemerkt, dass sie ganz kalt war. Da wusste ich, dass er sie zu fest geschlagen hatte. Als ich ihm das sagte, hat er nach mir getreten und versucht, mich zu packen, aber ich ... bin zur Tür hinaus. Ich bin einfach immer weiter gelaufen. Obwohl er hinter mir her schrie, bin ich immer weiter, immer weiter, bis ich bei meiner Tante war. Sie hat mich aufgenommen, und dort bin ich dann auch geblieben. Ich habe gearbeitet, müsst Ihr wissen. Meinen Teil beigetragen. Und als dann das Kind kam, habe ich darauf aufgepasst und meiner Tante geholfen, Essen auf den Tisch zu bringen. Alle dort mochten mich, ich glaube, sie waren wirklich froh, dass ich auf das Kind aufgepasst habe, bis ... bis dann plötzlich rundherum alle starben. Erst starb der Bäcker, dann der Metzger und dann sogar der Bauer, von dem wir immer das Obst kauften, so dass wir nicht mehr genug zu essen hatten. Trotzdem hat meine Tante mir immer noch genauso viel gegeben wie den anderen, obwohl sie noch Hunger hatten, und deswegen ... bin ich weggelaufen.«
Der Junge sah ihn mit weisen grünen Augen an. Dem Comandante ging durch den Kopf, wie seltsam es doch war, dass dieser Junge, ein magerer kleiner Achtjähriger, mehr Integrität besaß, als er es je bei einem erwachsenen Mann erlebt hatte. Er konnte nicht anders, als ihn zu fragen: »Wie hast du denn das alles überlebt?«
»Keine Ahnung ...«, antwortete Romanino achselzuckend, »aber Mutter hat immer zu mir gesagt, dass ich anders bin. Stärker. Dass ich nicht krank werden würde, und auch nicht so dumm sei wie die anderen. Sie hat gesagt, dass ich eine besondere Art von Kopf auf den Schultern trage. Deswegen mögen mich die anderen auch nicht. Weil sie wissen, dass ich besser bin als sie. So habe ich überlebt. Indem ich immer an das gedacht habe, was ich von meiner Mutter wusste. Über mich und über die anderen. Sie hat gesagt, ich würde überleben, und das habe ich auch getan.«
»Weißt du, wer ich bin?«, fragte der Comandante schließlich.
Der Junge sah ihn an. »Ein großer Mann, glaube ich.« »Da bin ich mir nicht so sicher.«
»Doch«, sagte Romanino mit Nachdruck, »Ihr seid ein großer Mann. Ihr habt eine große Küche. Und ein Huhn. Außerdem habt Ihr mich die
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