Kaeltezone
befand, umgekommen sein, oder sie war in ein Gefängnis wie Schloss Hoheneck überführt worden und hatte da den Tod gefunden. Dort befand sich das größte Frauengefängnis für politische Gefangene in der DDR. Ein anderes berüchtigtes Gefängnis war Bautzen ii, bekannt unter dem Namen »Gelbes Elend«, weil die Mauersteine dort gelb waren. Dort wurden Häftlinge untergebracht, die sich der »verräterischen Handlungsweise gegen den Arbeiter-und Bauernstaat« schuldig gemacht hatten. Viele politisch Andersdenkende wurden kurz nach der ersten Verhaftung, die als Warnung galt, wieder freigelassen. Andere kamen nach kurzer Haft wieder frei, ohne jemals vor Gericht gestellt worden zu sein, und wieder andere tauchten erst nach vielen Jahren wieder auf, einige aber auch nie. Ilonas Eltern erhielten nie eine Benachrichtigung über ihren Tod, deswegen lebten sie jahrelang in der Hoffnung, dass sie wiederkommen könnte, aber das geschah nicht. Trotz intensiver Bemühungen, sowohl bei den Behörden in Ungarn als auch in der DDR, erhielten sie niemals Auskünfte über ihre Tochter. Es war, als hätte sie nie existiert.
Als Ausländer hatte er in einer Gesellschaft, die er so wenig kannte und noch weniger verstand, letzten Endes kaum Chancen. Er litt unter dem Gefühl seiner Ohnmacht gegenüber den Machthabern, während er von Dienststelle zu Dienststelle, von einem leitenden Funktionär zum anderen lief. Er hasste es, sich von allen Seiten sagen lassen zu müssen, dass man einen Menschen wie Ilona verhaften konnte, nur weil sie andere Ansichten hatte als die Machthaber.
Immer wieder fragte er Karl danach, was bei Ilonas Verhaftung geschehen war. Er war der einzige Zeuge, als die Polizei bei ihr zu Hause erschien. Er hatte von ihr einen Band mit Gedichten eines jungen ungarischen Dichters, den sie ins Deutsche übersetzt hatte, ausleihen wollen.
»Und was passierte dann?«, fragte er Karl zum hundertsten Mal. Er und Emíl saßen im Erfrischungsraum mit Karl zusammen. Drei Tage waren seit Ilonas Verschwinden vergangen, und er klammerte sich zu dem Zeitpunkt noch an die Hoffnung, dass man sie wieder freiließe und sie sich jeden Augenblick bei ihm melden oder womöglich hier in der Kaffeestube auftauchen würde. In regelmäßigen Abständen wanderten seine Blicke zur Eingangstür. Er war außer sich vor Sorge.
»Sie hat mir einen Tee angeboten«, sagte Karl, »und ich habe nicht nein gesagt. Dann hat sie Wasser aufgesetzt.«
»Über was habt ihr geredet?«
»Nichts Besonderes, bloß über Bücher, die wir gelesen hatten.«
»Was hat sie gesagt?«
»Nichts. Wir haben uns einfach unterhalten, und zwar über nichts Besonderes. Wir konnten doch nicht wissen, dass sie kurze Zeit später verhaftet werden würde.«
Karl sah, wie sehr er unter all dem litt.
»Ilona war mit uns allen befreundet«, sagte er. »Ich versteh das nicht. Ich begreife nicht, was hier vorgeht.«
»Und was dann? Was ist passiert?«
»Dann klopfte es an der Tür«, sagte Karl.
»Und?«
»An der Wohnungstür. Wir waren in ihrem Zimmer, in eurem Zimmer, meine ich. Sie hämmerten an die Tür und brüllten etwas, das wir nicht verstanden. Ilona ging zur Tür, und als sie öffnete, stürmten sie herein.«
»Wie viele waren es?«
»Fünf, oder vielleicht sechs, ich kann mich nicht genau erinnern. Das Zimmer war voll von ihnen. Einige trugen die Uniform der Vopos, andere waren in Zivil. Einer kommandierte herum, und die anderen haben ihm gehorcht. Sie fragten Ilona nach ihrem Namen, sie hatten auch ihr Foto dabei, vielleicht das aus der Studentenkartei. Ich weiß es nicht. Und dann haben sie sie abgeführt.«
»Und sie haben alles auf den Kopf gestellt?«, fragte er.
»Sie haben einige Papiere mitgenommen, die sie gefunden hatten, und auch einige Bücher, aber ich weiß nicht, was genau«, sagte Karl.
»Was hat Ilona gemacht?«
»Sie wollte natürlich wissen, worum es ging, und hat mehrmals danach gefragt. Ich auch. Sie haben einfach nicht geantwortet. Sie haben ihr nicht geantwortet und erst recht nicht mir. Sie haben mich überhaupt nicht beachtet. Ilona bat darum, ein Telefongespräch führen zu dürfen, aber das wurde ihr nicht gestattet. Sie hatten den Auftrag, sie zu verhaften, nichts anderes.
»Konntest du nicht fragen, wohin sie mit ihr wollten?«, warf Emíl ein. »Konntest du nicht irgendetwas machen?« »Da war nichts zu machen«, sagte Karl kleinlaut. »Das müsst ihr verstehen. Wir konnten gar nichts tun. Ich konnte nichts machen! Sie
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