Kalte Macht: Thriller (German Edition)
bestellt, die Kanzlerin kondoliere ihr aufrichtig, das würde sie ihr nach der Rückkehr von der Asien-Reise auch noch selbst sagen. Zurzeit war der Tross – in leicht abgewandelter Zusammensetzung – in Korea unterwegs. Natascha verfolgte die Wege der Kanzlerin und einiger Kollegen im Fernsehen, ohne sich aber allzu sehr damit auseinanderzusetzen. Sie hatte andere Probleme.
Henrik hatte sich gemeldet. Eigentlich hatte er ihren Vater anrufen wollen, um von ihm zu erfahren, ob er wusste, wo sie war. Als er sie selbst am Telefon hatte, war kein wirkliches Gespräch zustande gekommen. Sie war zu angegriffen, ihm Vorhaltungen zu machen, der Tod ihres Vaters hatte alles relativiert. Henriks Untreue ebenso wie ihre Ehe. Henrik seinerseits war sprachlos, hatte nur noch geschwiegen, als sie ihm in dürren Worten sagte, dass ihr Vater tot sei. Ob das der Grund sei, weshalb sie plötzlich verschwunden war? Das war ihm schließlich noch in den Sinn gekommen. Nein, hatte sie gesagt, das sei es nicht gewesen. Er wusste es doch.
Und dann war sie nach oben gegangen und hatte begonnen, sich mit der Arbeit am Unvermeidlichen zu trösten: den Formalitäten, die zu erledigen waren, wenn jemand, der lange Zeit auf dieser Welt gelebt hatte, sie wieder verließ: Papiere sichten. Versicherungen und Abonnements kündigen. Den Nachlass erfassen. Trauerkarten verschicken. Erstaunt stellte Natascha fest, dass ihr Vater alles akribisch notiert hatte. All seine Gedanken hatte er in Notizbücher, auf Zettel und Blöcke geschrieben. Politisches. Persönliches. Sogar einige Gedichte, die nicht einmal übel waren. Eine erotische Novelle. Natascha lächelte wehmütig, als sie sie las: ein alter Mann und doch voller Sehnsüchte. Er war einsam gewesen, sie konnte ihn verstehen.
Auf einem Block hatte er eine Liste angefertigt, über der Natti stand. Wie er sie manchmal genannt hatte. Sie konnte zunächst nichts damit anfangen. Es schien eine Sammlung von nichtssagenden Begriffen zu sein: Alpen-Bund, Bilderberg, Centrum für angewandte Politikforschung, Centrum für Europäische Politik, Deutsche Gesellschaft für auswärtige Politik, Einstein-Connection, GIGA , Sicherheitskonferenzer, Similauner, Venusberg-Gruppe … Das meiste war durchgestrichen. Hervorgehoben aber war eine Position: Transatlantische Allianz. Transatlantische Allianz, das hatte er ihr auch zugeraunt, als sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Es waren praktisch seine letzten Worte gewesen.
Natascha beschloss, den Zettel zu den Sachen zu tun, die sie mitzunehmen beabsichtigte. Auch eine Mappe mit Zeitungsausschnitten steckte sie ein, die ihr Vater offenbar mit Blick auf ihre Aufgabe zusammengestellt hatte.
Ihr graute davor, sich mit dem Nachlassgericht in Verbindung zu setzen. Doch ohne Erbschein konnte sie sich um die Angelegenheiten ihres Vaters nicht kümmern, konnte kein Bankkonto auflösen, konnte das Auto nicht verkaufen, das in der Garage stand und das sie nicht brauchte, konnte das Haus nicht auf sich umschreiben lassen. Und das wollte sie. Denn nun, da alles, was ihr im Leben wichtig war, kaputtzugehen schien, wusste sie, dass sie einen Fixpunkt brauchte, an dem entlang sie ihre Zukunft planen konnte. Und der war nicht in Berlin und auch nicht in dem Haus am See in Mecklenburg – er war hier, am Ort ihrer glücklichsten Tage. Zu Hause. Dort, wo der Geist ihrer Eltern weiterlebte.
In ein paar Monaten würde sie eine Auszeit von ihrer politischen Karriere nehmen, würde das Kind bekommen. Dann würde sie hierherziehen und sich ganz auf ihre Zukunft konzentrieren. Sie hatte viel nachgedacht über sich und die Schwangerschaft. Dabei war ihr klar geworden, dass ein Kind das Einzige war, was ihrem Leben jetzt einen Sinn geben konnte. Sie hatte das Vertrauen zu Henrik verloren und wollte ihn eigentlich nicht mehr zurück, auch wenn sie wusste, dass jeder Mensch, der unter dem Druck des politischen Geschäfts arbeiten musste, verdammt nah daran war, untreu zu werden und Trost in fremden Betten zu suchen. Politiker waren einsam, und sie waren gierig nach Bestätigung. Sie wusste, dass jeder von den männlichen Kollegen in gewisse Etablissements ging, jeder. Nur die Schwulen taten das nicht – und die hatten ihre eigenen Fanggründe. Henrik war einfach zu nah an so einem Politikerleben dran: Mit der Zusammenarbeit im Kanzleramt hatte auch er den ungesunden Arbeitsrhythmus aufgenommen. Er hatte sich in die Tiefen und vor allem in die Untiefen der Politik versenkt, begonnen, wie
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