Kalte Spur
entfernt.
»Jessica …«
»Ich weiß. Wir sehen es uns an und gehen dann direkt zurück, ehe Mom und Dad kommen.«
Lucy nickte, fragte sich aber, was dieses »es« sein mochte. Ihr war bange, doch sie war auch aufgeregt. Ob sie ihren Herzschlag fühlen konnte? Sie konnte.
»Schau nur nicht nach oben …«, flüsterte Jessica. Die beiden lachten, und das nahm für einen Moment die Anspannung. Schau nur nicht nach oben war seit den ersten Berichten über Verstümmelungen ein Standardspruch in der Schule geworden. Einige von Sheridans Klassenkameraden erschreckten die jüngeren Schüler damit auf dem Schulhof. Wenn die dann doch hochsahen – meist flüchtig und halb erschrocken –, machten die Sechstklässler rasch einen Schritt vor und kitzelten die Kleinen oder stießen sie über einen Mitverschworenen, der hinter ihnen auf alle viere gegangen war.
Noch bemerkenswerter waren allerdings die beiden Jungs, die in ihrer Klasse mit Folie bedeckte Baseballkappen verkauft hatten. Der eine hatte die Kappen aus der Sammlung seines Vaters gestohlen, der andere bei seiner Mutter eine große Rolle Alu-Folie eingesteckt.
»Warum sich verstümmeln lassen?«, hatten sie wie Marktschreier gerufen. »Schützen Sie sich mit diesen Herrlichkeiten … nur sieben Dollar das Stück oder zwei für zwölf Dollar …«
»Wie weit ist es noch?«, fragte Lucy. Sie mussten allmählich fast an der Grundstücksgrenze sein. So weit hatten sie sich noch nie vom Haus entfernt.
»Es ist gleich da vorn«, sagte Jessica. »Wart ab, was passiert,
wenn Hailey nächstes Mal mit ist. Wir lassen sie einfach hier stehen. Geschieht ihr recht, wo sie immer versucht, uns Angst zu machen.«
Nervös kichernd duckten sie sich unter einem niedrigen Ast hindurch und arbeiteten sich durch hohes, trockenes Gesträuch. Lucy erstarrte, als sie das dunkle Gebäude vor sich sah. Es war nicht so groß, wie im ersten Moment angenommen. Eigentlich war es eher ein Schuppen, alt und ohne Anstrich. Nur noch ein Fenster war verglast, die anderen waren zugenagelt. Bei der durchhängenden Veranda fehlten einige Latten, durch die Lücken war mittlerweile verdorrtes Gras gewachsen. Das Dach war wellig, und ein alter, rußiger Blechschornstein ragte daraus hervor.
»Wow«, sagte Lucy. »Wann hast du das entdeckt?«
»Gestern.«
Jessica lächelte und hob erwartungsvoll die Brauen. Lucy war sich nicht sicher, wie sie das Ganze finden sollte.
»Willst du reingehen?«, fragte Jessica.
»Vielleicht sollten wir zurück.«
»Magst du nicht wissen, was da drin ist?«
Lucy verschränkte die Arme. »Ich geh da nicht rein.«
Jessica wirkte enttäuscht, aber nicht sehr. Das gab Lucy ein etwas besseres Gefühl, denn nun wusste sie, dass auch ihre Freundin Angst hatte.
»Und wenn wir bloß durchs Fenster schauen?«, überlegte Jessica.
Lucy dachte darüber nach. Ihr erster Impuls war, zum Haus zurückzukehren. Doch sie wollte ihre Angst nicht zeigen, um Jessica keinen Grund zu geben, sie später zu hänseln.
Also nickte sie schnell. Sie zog es vor zu schweigen, damit ihre Stimme ihre Furcht nicht verriet.
Die Mädchen gingen zögernd zum Schuppen. Lucy erkannte,
dass sie nur auf Zehenspitzen durchs Fenster würde sehen können. Jessica war drei, vier Zentimeter größer und hätte es da leichter. Lucy wünschte sich die Wolken fort. Die Sonne machte alles gleich viel freundlicher.
Lautlos näherten sie sich dem Fenster. Das Sims war grau und verzogen; Lucy streckte den Arm hinauf und ergriff es, um sich möglichst hoch zu recken. Sie strengte sich an, balancierte auf den Schuhspitzen und streckte sich, bis ihre Nase das Sims berührte.
Drinnen war es gerade eben hell genug, um etwas zu erkennen.
Beide schnappten unvermittelt nach Luft.
Was sie so furchtbar erschreckte, war nicht der Haufen schmutzigen Bettzeugs oder die geöffneten Konservendosen und Pappschachteln oder der Bücherstapel auf dem Boden. Es war das Rascheln von irgendwo aus dem Dunkeln und ein dumpfer Tritt, als wollte sich etwas befreien.
Schreiend rannten sie zum Haus zurück.
Vierzehntes Kapitel
Nach der Versammlung der Arbeitsgruppe fuhr Joe Pickett durch die Breaklands in die Vorberge der Bighorns und hielt an einem guten Aussichtspunkt, um sein Mittagessen – ein Salamisandwich und einen Apfel – zu verzehren und dabei das weite Tal zu inspizieren. Der Tag war wolkenlos und kühl, der Horizont im Osten unendlich. Am strauchbewachsenen Zusammenfluss mehrerer Bäche hatten sich drei
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