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Kaltes Gift

Kaltes Gift

Titel: Kaltes Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nigel McCrery
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wiederfinden. Sie
finden und sie töten, ein für alle Mal.
    Und was immer passierte, nie wieder würde sie Herbstzeitlose
verwenden.
    Eine schwache Spur zog sich vom Wagen fort in die feuchten
Tiefen des Waldes. Annie blickte noch einmal nach beiden Seiten die
Straße entlang, bloß für den Fall, dass jemand käme, doch die Straße
war leer. Da machte sie sich an die Verfolgung.
    Der Waldboden war mit Zweigen und niedrigem Buschwerk bedeckt,
das Annie nicht identifizieren konnte. Umgekippte Bäume versperrten ihr
den Weg und mussten umgangen werden, aber zerknickte Blumen und
zerwühlte Stellen am Boden zeigten ihr, wo Violet sich
entlanggeschleppt hatte. Schmeichelndes Licht fiel durch die Kronen der
Bäume, und überall war es still. Annie hörte ihre eigenen Schritte
durch die Blätter flüstern; fast hörte es sich an, als bahne sie sich
den Weg durch dicken Schnee. Und sie roch den tiefen, berauschenden
Duft alten Holzes und alten Laubes, das älteste und tiefgründigste
Parfüm der Welt. Manchmal summte ein Insekt vorüber, und ein
plötzliches Rascheln im Gebüsch zeigte an, wo ein kleines Tier sie
gehört hatte und nun die Flucht ergriff.
    Doch sie suchte nicht nach kleinen Tieren. Ihre Beute war
beträchtlich größer.
    Auf einer kleinen Lichtung blieb Annie stehen und lauschte.
Irgendwo drüben auf der anderen Seite hörte sie knackende Geräusche,
als bahne sich dort jemand Hals über Kopf seinen Weg durch Unterholz
und Gebüsch.
    Der Atem rasselte in ihrer Kehle, und ihr wurden die Knie
weich, doch sie ging weiter. Niedrige Zweige reckten sich nach ihrem
Gesicht, während Wurzeln sich verzweifelt um ihre Fußknöchel
klammerten, um sie zu Fall zu bringen. Immer wieder musste sie nach
einem Baumstamm greifen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und
die raue Borke zerkratzte ihr die Handflächen.
    Durch eine Lücke zwischen den Bäumen sah sie eine künstliche
Farbe aufblitzen, die sich intensiv gegen das natürliche Grün und Braun
des Waldes abhob. Ein helles Rot: genau die Farbe der Strickjacke, die
Violet angehabt hatte, als sie starb. Und als sie wieder zum Leben
erwachte. Annie ging langsamer, ließ sich Zeit beim Näherkommen,
verbarg sich hinter einem großen Busch.
    Violet kauerte auf allen vieren neben einer hohen Eiche. Ein
Speichelfaden floss ihr aus dem Mund. Sie keuchte – ein
harsches, fast mechanisches Geräusch. Die Haut an ihren Händen und
Knien war von Schmutz und Blut aus vielen kleinen Kratzern verschmiert,
die sie sich bei der Flucht zugezogen hatte. Doch da war sie nun, und
ihr waren die Luft, die Zeit und die Alternativen ausgegangen.
    Annie bückte sich und hob einen heruntergefallenen Ast vom
Waldboden auf. Sie wog ihn in der Hand: Er fühlte sich fast an wie ein
Industrieerzeugnis in seiner schweren Dichte – wie ein
Stemmeisen oder wie ein Wagenheber. Ihre Hand umschloss ihn perfekt,
und einen Moment lang fragte sie sich, warum sie eigentlich immer
wieder auf Gift zurückgriff, wo doch Gewalt so verlockend sein konnte.
    Doch dann sah sie den Esszimmertisch vor sich, mit all den
stummen Gesichtern darum herum, und da wusste sie es wieder.
    Violet streckte eine Hand nach dem Eichenstamm aus, um sich
abzustützen und aufzustehen. Aus Sorge, sie könnte wieder versuchen zu
entkommen, trat Annie einen Schritt hinter dem Gebüsch hervor.
    Sie musste ein Geräusch gemacht haben, denn Violet wandte den
Kopf und erfasste sie mit einem irren, starren Blick. Ihre Zähne waren
wild gefletscht.
    Annie trat einen weiteren Schritt vor und schwang locker den
Ast an ihrer Seite, bereit, ihn zu benutzen.
    »Warum …?«, stammelte Violet; ihr Blick schien zu
verschwimmen, wurde aber wieder klar. »Warum haben Sie das getan?«
    »Weil ich konnte«, erwiderte Annie. »Weil
ich das schon früher getan habe und es auch wieder tun werde. Weil ich
dadurch kriege, was ich will. Und vor allem, weil ich einfach Ihr
ewiges Klagen satthatte, Ihr ständiges höhnisches Gerede über Nachbarn,
über alte Freunde, und über mich.«
    Sie machte noch zwei Schritte vorwärts und hob den Ast in die
Höhe.
    Violet drehte sich weg, ein verzweifelter Rückzug in die
Freiheit, aber Annie ließ den Ast auf ihren Hinterkopf niederkrachen.
Sie wusste eigentlich nicht, was sie erwartet hatte – einen
dramatischen Blutschwall vielleicht, oder dass der Schädel unter dem
Ast zerbarst wie eine Schnecke im Garten, auf die man trat, dass er die
weiche, graue, schwammige Masse darin preisgab –, doch nichts
von

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