Kann ich gleich zurueckrufen
-Mannes. Ich kenne ihn nur flüchtig und nicht mal mit Namen. Und mit Sicherheit tue ich ihm und seiner Frau, so er eine hat, gerade gewaltig unrecht. Das ist mir aber egal. Ich hasse es, gedemütigt zu werden. Es ist dasselbe Gefühl, das ich verspürt habe, wenn mir die Bustür vor der Nase geschlossen wurde, weil ich es gewagt habe, mit einem Kinderwagen einsteigen zu wollen.
Ich gehe zurück in mein Zimmer und atme durch. Kurz nach zwei. Noch eine gute halbe Stunde, dann kann ich hier raus. Statt mich weiter mit der Präsentation zu befassen, drucke ich sie aus, so wie sie ist. Ich räume meinen Schreibtisch auf, sortiere Papiere und lösche alte E-Mails aus meinem Posteingang. Dabei stoße ich auf eine Nachricht meiner Schulfreundin. Sie empfiehlt mir das Buch Das Unbehagen in der Gesellschaft eines französischen Soziologen 15 , der sich Gedanken über die heutige Arbeitswelt macht. Es geht im Berufsleben nur noch um Flexibiliät und Effizienz, um Autonomie und um Kommunikationsstörung, fasst sie das Buch zusammen. Fachliche Kompetenz ist fast schon zweitrangig, Hauptsache, man zeigt gute Laune und ist allzeit bereit für das, was verlangt wird. Meine Freundin fühlt sich durch das Buch bestätigt in ihrer Entscheidung, ihren Beruf als Übersetzerin an den Nagel gehängt zu haben. Und sie tröstet mich in ihrer Mail mit dem Hinweis, dass Kinder die Flexibiliät vielleicht schmälern, die Effizienz aber ungemein steigern. Stimmt. 14:45 Uhr. Zeit zu gehen.
Auf dem Weg zum Aufzug kommt mir die ältere Grafikerin entgegen. »Ist ja ein Superwetter heute. Sie gehen sicher gleich mit Ihrem Kind raus.« Ich schaue sie streng an und nicke. »Ja.« Sie lächelt. Den Vorfall in der Teeküche scheint sie vergessen zu haben. Oder sie war so beeindruckt von meinem Wutanfall, dass ich nun an Ansehen gewonnen habe. »Ich weiß noch, wie ich meine Tochter stundenlang angeschubst habe auf der Schaukel. Ist ’ne besondere Zeit, wenn die Kinder so klein sind. Und sie ist auch so schnell vorbei.« Die Grafikerin wünscht mir einen schönen Tag. Ich gehe zum Aufzug und entscheide mich für die zweite Variante – meine Reaktion in der Teeküche hat sie beeindruckt. Ich buche das kurze Gespräch als Erfolg ab. Vielleicht können Menschen sich ja doch ändern. Wenigstens ein bisschen.
Ich erreiche den Bus und komme pünktlich am Kindergarten an. Mein Sohn läuft mir entgegen und erzählt, dass er eine Biene im Garten gesehen hat. Ich hole seine Sachen und nehme ihn an der Hand. »Die Oma kommt gleich zu uns. Vielleicht geht sie mit dir auf den Spielplatz. Ich muss nämlich noch mal kurz weg zum Haareschneiden«, erkläre ich ihm. Er nickt. Und hält meine Hand sehr fest. Kurz steigt in mir die Sorge hoch, ob er wieder Fieber hat. Doch seine Augen sind klar, und er fühlt sich nicht heiß an. »Ich will ein Eis essen«, sagt er. Ich schaue auf die Uhr, 15:17 Uhr. Um vier kommt meine Mutter. Die Eisdiele liegt fünf Minuten von unserer Wohnung entfernt. »Einverstanden«, sage ich.
Es herrscht reger Betrieb an der Eisdiele. Ein Mann löffelt einen Eisbecher an einem der beiden Bistrotische, zwei Frauen sitzen an dem anderen unter einem Sonnenschirm. Die ältere der beiden ermahnt einen vielleicht sechsjährigen Jungen, der auf einem Skateboard um den Bistrotisch kreist. Die jüngere ist offensichtlich schwanger. Während wir warten, höre ich dem Gespräch der Frauen zu. Zuerst möchte ich gar nicht lauschen, doch sie sprechen so laut, dass ich es nicht verhindern kann. Die ältere Frau klagt, sie fände keinen Mittagsbetreuungsplatz für ihren Sohn, der im Herbst in die erste Klasse kommt. »Keinen Hortplatz. Nur eine Mittagsbetreuung suche ich. Der Unterricht endet an drei Tagen um halb zwölf, an zwei Tagen um halb elf.« Die Frau wirkt verzweifelt. Sie weiß, dass es noch drei freie Plätze gibt in der Mittagsbetreuung – auf die sich vierundzwanzig Kinder bewerben müssen. »Wenn ich keinen Mittagsbetreuungsplatz finde, muss ich in der Apotheke kündigen. Von Viertel vor acht bis Viertel nach zehn arbeiten – das ist ein Witz. Aber ein schlechter.« Die jüngere Frau versucht sie zu trösten. Sagt, dass es noch ein bisschen hin ist bis zum Schulanfang. Dass sie sich mit den anderen Müttern zusammentun kann, die auch keinen Mittagsbetreuungsplatz finden. Oder selbst etwas auf die Beine stellen kann.
Vor uns steht eine Gruppe Schülerinnen, die sich nicht entscheiden können, welche Eissorte sie wollen. Also warten wir.
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