Katharsia (German Edition)
hat sie anfangs immer genannt … Da war sie noch so … unruhig … verzweifelt … hat geschrien im Schlaf … Erst in letzter Zeit …“
Die Frau brach ab, atmete tief durch und nickte erleichtert mit dem Kopf.
„Was war in letzter Zeit?“, drängte Sando ungeduldig.
Und wieder vergingen quälende Sekunden, ehe die Frau antwortete: „Da war sie so glücklich … Diesen Namen … Maria … hatte sie vergessen … ja, den bösen Schatten der Vergangenheit endlich vergessen … Und nun kommen Sie, junger Herr, und … Gehen Sie endlich!“
Mit erregt zitternden Händen streichelte sie Marias Hand.
„Aber ich …“, setzte Sando zu einem Einwand an.
„Komm jetzt!“, unterbrach ihn Ben. Er war unerbittlich.
Sando richtete sich auf, folgte Ben zur Terrassentür und blieb wie elektrisiert stehen. Was hatte er da eben gesehen? Diese kleine Stickerei auf dem Kleid der Alten! Es war eine Fünf!
Jetzt wusste er, woher er die schwarz gekleidete Frau kannte. Von den Beerdigungsfotos! Sie war die Mutter des KORE-Kämpfers Nummer fünf!
„Ben, warte!“, raunte er.
Ben machte kehrt und schimpfte ungehalten: „Willst du so lange machen, bis die Wachen wiederkommen?!“
„Ist ja gut, Ben“, flüsterte Sando. „Schau dir die Frau an! Sie ist die Mutter eines verunglückten KORE-Kämpfers.“
Ben war sprachlos.
Sando ging zurück zu den beiden Frauen. In den traurigen Singsang der Alten hinein sagte er: „Darf ich Sie noch etwas fragen?“
Die Frau schwenkte langsam ihre trüben Augen auf ihn ein. „Was ist?“
Ihre Stimme war brüchig.
„Warum tragen Sie eine Fünf auf Ihrem Kleid?“
Die Stirn der Alten umwölkte sich. „Warum tun Sie das? Erst die junge Frau … und jetzt …“
Ihre Hand ging zur Brust, tastete zitternd nach der Stickerei.
„Die Fünf … das war Ihr Sohn, nicht wahr?“, bohrte Sando weiter.
Die Hand der Alten fiel kraftlos herab, landete auf Marias Schulter. „Er war alles, was ich hatte … nach dieser verfluchten Zeit …“, sagte sie tonlos.
„Verfluchte Zeit?“, setzte Sando nach.
„Die vielen Jahre …“
Die Alte starrte ins Leere. Wie abwesend sprach sie vor sich hin: „Ohne IHN wäre ich immer noch dort … Ich hätte ihn nie gefunden … den Weg hinaus … hinaus aus dem … aus dem …“ Die Frau öffnete mehrfach den Mund, versuchte vergeblich, ein Wort zu formen. Doch tief aus dem Rachen strömte nur zischend angestaute Luft.
„Sie meinen den Weg aus dem Hades?“
Die Frau schien plötzlich zu schrumpfen, als sie das Wort hörte. Sie nickte kaum merklich und stammelte: „Verfluchte Zeit … all diese Jahre … und ohne IHN …“ Sie faltete die Hände. „Ohne IHN …“
„Bitte, von wem sprechen Sie?“, fragte Sando.
Plötzlich schien die Frau wieder bei sich zu sein. „Was habe ich gesagt?“
„Sie haben von IHM gesprochen.“
„So? Habe ich das?“
Sie war sichtlich erschrocken, blickte sich ängstlich um.
Im Hause näherten sich Schritte. Diesmal zögerte Sando keine Sekunde. Mit einem Satz stand er an der Terrassentür. Ein letzter Blick auf Maria und schon eilte er Ben nach.
Auf Schlängelwegen durchquerten sie den Park, setzten ungehindert über die Mauer und stellten erleichtert fest, dass Massef mit seinem Wagen schon bereitstand.
„Ein bisschen spät! Ich sitze hier wie auf Kohlen“, brummte er zur Begrüßung und fuhr los.
Solange sie sich in dem grünen Tal befanden, herrschte angespannte Stille. Immer wieder versicherte sich der Reporter durch Blicke in den Rückspiegel, dass ihnen niemand folgte. Erst als sie auf die Landstraße, die durch die knochentrockene Ebene führte, einbogen, legte sich die Nervosität und Massef fragte erleichtert: „Na, Sando? Hast du die Frau deiner Träume gesehen?“
„Ich habe mit ihr gesprochen.“
„Und? Ist es deine Maria?“
„Sie ist es. Nur … so verwirrt.“
„Hat sie dich erkannt?“
„Am Anfang nicht. Sie war wie eine Fremde. Aber dann … ganz bestimmt … am Ende hat sie Chopin gespielt.“
„Chopin?“
„Ja. Sie war meine Klavierlehrerin … und dieses Stück … wir haben es beide geliebt.“
„Dann ist doch alles bestens.“
Massef griff zum Armaturenbrett und schaltete die Innenbelüftung ein, denn der Staub des Kippers, der schon seit geraumer Zeit vor ihnen fuhr, legte sich auf ihre Lungen.
„Ich weiß nicht …“ Sando schüttelte den Kopf. „Zuerst hat Maria nicht einmal gewusst, dass sie Klavier spielen kann, und als sie sich am Ende dabei
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