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Kein Wort mehr ueber Liebe

Kein Wort mehr ueber Liebe

Titel: Kein Wort mehr ueber Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herve Le Tellier
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loszureißen. Nachdenklich legt sie ihren Kopf auf Yves’ Schulter:
    – Mein süßer Goj.
    Yves weiß, dass Anna ihren Mann »mein Süßer« nennt. Er erkennt die Zärtlichkeit hinter der Ironie.
    – Weißt du was?
    Bei »Weißt du was?« muss Yves lächeln. So oft beginnt Anna ihre Fragen mit diesem Motiv. Und jedes Mal antwortet er, ohne das kleinste Zeichen von Überdruss an den Tag zu legen:
    – Nein, Anna, ich weiß nicht. Sag’s mir.
    – Ich gefalle dir auch deswegen, weil ich Jüdin bin.
    Yves wird diese Bemerkung absurd finden, aber sie fährt schon fort:
    – Du wärst gerne ein Jude gewesen.
    Das ist eine Behauptung. Yves wundert sich:
    – Willst du damit sagen, dass ich es bedauere, kein Jude zu sein?
    – Genau. Da ist ein Bedauern. Und du hast dich auf der Grundlage dieses Bedauerns erfunden.
    Yves antwortet nicht. Sie spinnt ihre Idee weiter:
    – Jude sein, das ist eine Identität. Wenn du dir eine Identität hättest aussuchen können, dann hättest du diese gewählt.
    Anna glaubt ernsthaft, dass alle Welt gerne Jude wäre, und auf jeden Fall die Schriftsteller. Die Juden sind die Leute des Wissens, des Buches, die Hüter der Erinnerung. Der Jude, sagt sie, arbeitet, will seinen Kindern etwas weitergeben, der Welt etwas hinterlassen. Die Protestanten zuweilen auch, räumt sie ein. Aber Yves erinnert sich an einen Gedanken von Annas Schwester Nora, als Anna ihr das Werk ihres Freundes Hugues Léger vorstellte. Nora fand eines seiner Bücher so großartig, so tiefgründig, dass ihr der Satz herausrutschte:
    – Bist du sicher, dass er kein Jude ist?
    Anna hatte sie erst völlig verblüfft anschauen müssen, bevor Nora errötete: Die Entdeckung ihres spontan geäußerten Rassismus verwirrte sie nicht weniger als die Offenlegung ihrer Vorurteile. Niedergeschlagen und mit einem Anflug von Wut hatte Yves genickt.
    Er hätte nicht übel Lust gehabt, sie zusammenzustauchen:
    – Nein, Nora, Hugues Léger war kein Jude. Jude zu sein ist keine notwendige Bedingung, um ein großes Buch zu schreiben. Und es ist auch keine hinreichende Bedingung. Soll ich dir ein paar sehr schlechte jüdische Schriftsteller nennen?
    Aber Yves hatte Annas Schwester verschont. Er hatte sich mit einem ironischen Blick begnügt, den er mit höchstem Wohlwollen unterlegte.
    Anna hingegen redet nie einfach ins Blaue hinein. Es stimmt: Yves hat das Zeug zum verbrieften Juden. Er ist kein Philosemit, keiner dieser Antisemiten, die die Juden mögen, aber ihn interessiert die jüdische Identität. Er kennt sich im Judaismus gut aus, kennt die Riten, die Festtage, hört Klezmer-Musik.Da er das Deutsche beherrscht, versteht er das Jiddische, aber wer spricht es noch? An Rosch haSchana hat er Anna einen Gruß geschickt:
A gut yor
. Ihr Vater mochte in Hannover geboren sein, Anna wusste nicht, dass dies »Ein gutes neues Jahr« bedeutete. Wenn Yves zum militanten Trotzkisten geworden war, dann aus einer Art angeborenem Antifaschismus, aus Hass auf die Mörder der Shoah. Über Letztere hat er eine ansehnliche Bibliothek zusammengetragen. Es stimmt auch, dass viele seiner Freunde Juden sind und dass er eine besondere Vorliebe für jüdische Witze hat, wobei der von der »Alternative« sein Lieblingswitz ist. 1 Undschließlich ist ihm auch bewusst, dass er sich häufiger, als es die Statistiken vorausberechnet haben würden, in jüdische Frauen verliebt hat.
    – Okay, du wirst es niemals zum
Jewish Writer of the Year
bringen, hatte ihm eines Tages ein (jüdischer) Freund erklärt, aber warum versuchst du’s nicht beim »Prix du roman goy«?
    Aber bedauert Yves nach alldem, kein Jude zu sein? Antwortet er mit Nein, wird Anna die Sache als einen Akt der Verleugnung analysieren. Yves sucht nach der richtigen Antwort auf diese Frage, die er sich nie gestellt hat. Er ist sehr wahrscheinlich ein unbestimmbares Gemisch aus Galliern, Wikingern, Goten, aber er hat diese Ungewissheit und Abwesenheit einer kontrollierten Herkunftsbezeichnung niemals verabscheut, er hat niemals in die Kleider eines anderen schlüpfen wollen. Er hat sich auf der Grundlage einer Verweigerung von Zugehörigkeit konstruiert, aus der Ablehnung der Familie heraus. Es gefällt ihm, dass ihm seine Muttersprache zuweilen fremd vorkommt. Um Anna antwortenzu können, wäre er gerne präzise. Sobald die Unterhaltung auf die Juden kommt oder, schlimmer, auf Palästina und die »Gebiete« (ein Begriff, dem sie nicht immer »besetzte« voranschickt), auf den »Terrorismus«, bewegt

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