Keinmaerchen
liegen auf dem Boden neben dem angefangenen Steinalb. Sein Gesicht ist fertig, aus seinen Augen blitzt die Angst. Wenn er sie auf mich schleudern könnte, würde sie mich in zwei Hälften schneiden, als wäre ich aus Papier. So scharf ist sie. Wie glühendes Metall.
Ich weiß nicht was ich machen soll. Wenn ich hier sitzen bleibe, werde ich mich auflösen, genau wie Alice, wie der kleine Junge, wie all die anderen. Der große Raum ist fast leer.
Sterben. Sterben ist vielleicht gar nicht so übel. Ich muss nur hier sitzen bleiben und warten, dann passiert es. Es ist Alice passiert. Oder nicht?
Vielleicht bin ich schon tot. Ich bin gestern gestorben und das hier ist das, was danach kommt. Nach dem Sterben. Eine weiße Hölle. Kalt und immer kälter, je weniger Kinder übrig bleiben. Aber die Hölle ist nicht um uns herum, sie ist in uns drin. Unter der weißen Haut, im ganzen Körper. Ich kann sie in mir spüren und ich spüre sie in den Alben.
Ich kann so nicht sterben, aber ich kann so auch nicht leben. Ich will mich nicht auflösen. Nicht, solange ich nicht weiß, wie es in den Schatten aussieht. In den Schatten ist etwas.
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Ich will in die Schatten, ich will wissen, warum wir das alles machen. Warum er das macht. Warum die Albe sind, warum wir hier sind. Interessiert dich das denn gar nicht? Willst du hier sitzen, spielen, Albe erschaffen, sie an ihn verlieren, neue machen und immer so weiter?
Sie sieht mich an und gleichzeitig durch mich hindurch. Ich bin müde, sagt sie. Meine Finger sind es müde, die Saiten zu greifen.
Dann lass uns noch mal zu den Alben gehen. Zu den großen.
Sie schüttelt den Kopf. So langsam, dass ich nicht weiß, ob sie überhaupt bemerkt, dass sie das tut. Und dann?, fragt sie. Was machen wir dann?
Weiß ich nicht. Woher soll ich das wissen?, schreie ich. Aber irgendwas müssen wir doch -
Sie springt auf und das Cello kippt um, landet scheppernd auf dem Boden. Ihr Körper ist knochig und fühlt sich zerbrechlich an. Ich habe Angst, dass sie zerbrechen könnte, wenn ich sie zu fest halte. Aber es fühlt sich gut an, sie zu halten.
Ich will nicht sterben, flüstert sie.
Wir sind doch schon längst tot. Lass uns gehen. Lass uns irgendetwas tun.
Er wird uns nicht weg lassen. Er braucht uns. Unsere Albe. Deswegen sind wir hier.
Ihre Stimme macht irgendetwas mit mir. Ich kann sie mit meinem ganzen Körper hören, kann ihre Worte spüren, wie ich ihren Kopf an meiner Schulter spüre. Er kann uns nichts tun, sage ich. Er hat gewartet, bis wir freiwillig in den Zug gestiegen sind, und er wird uns nicht festhalten können.
Ich habe ihn gehört, sagt sie, als du weg warst. Er ist über die Schienen gerattert und hat gepfiffen.
Der Fünfuhrfünfzehnzug?
Sie nickt. Ihre Haare kitzeln an meinem Hals. Das ist deiner, sagt sie. Es ist für jeden ein anderer und doch immer der gleiche.
Dann kann er uns hier wegbringen, sage ich. Er hat uns hergebracht, also kann er auch -
Nein, sagt sie. Ich will nicht mit dem Zug fahren. Er fährt zu nicht guten Orten.
Jeder andere Ort wäre besser als der hier. Irgendeiner. Ich würde gerne mal wieder gelb sehen, sage ich. Kannst du dich an Butterblumen erinnern?
Käse, sagt sie.
Die Sonne, sage ich. Ihre Hand zittert in meiner und ich verschränke meine Finger mit ihren.
Wie heißt du?, fragt sie.
Ich schließe die Augen und durchforste die Leere in meinem Kopf. Ganz weit hinten, wo ich nur mit Mühe hingelangen kann, liegen zerknüllte Erinnerungen. Wie Papierfetzen, die man aus einem Heft gerissen und weggeworfen hat. Räum dein Zimmer auf, hat sie gesagt. Räum dein Zimmer auf und mach deine Hausaufgaben. Erin. Erin, sage ich, aber es klingt eher wie eine Frage. Der Name fühlt sich ungewohnt auf der Zunge an, aber er schmeckt auch bekannt. Erin. Das bin ich.
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Wir gehen über den leeren Gang und geben uns keine Mühe, uns zu verstecken. Er weiß immer, wo wir gerade sind. Wenn er uns finden will, findet er uns. Wir müssen in den Keller. Die Erinnerung an das erste Mal sitzt kalt und klar hinter meiner Stirn. Wieder gehen wir die kahlen Steinstufen hinab und mit jedem Schritt wird es kälter. Schweiß tropft in meine Augen. Ich halte ihre Hand fest umklammert. Wie heißt du eigentlich?, frage ich. Meine Stimme hallt von den Wänden wieder.
Sie bleibt stehen und sieht mich an. Ich kann ihre Augen im Dämmerlicht kaum sehen. Ich kann mich nicht erinnern, sagt sie. Ich habe es versucht, aber ich kann nicht. Ihre Stimme klingt dünn
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