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Ketzer

Ketzer

Titel: Ketzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Parris
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Obwohl direkt gegenüber ein Junge ermordet wurde?«
    »Die Türen der Bibliothek und der Kapelle bestehen beide aus massivem Eichenholz, Doktor Bruno«, verteidigte sich Godwyn. »Ich habe etwas früher Schritte auf der Treppe gehört, hielt das aber nicht für ungewöhnlich. Aber ich habe keine Stimme vernommen, bis Rektor Underhill die Kapellentür geöffnet und gerufen hat.«
    Erneut musterte ich den Leichnam.
    »Wenn ihm jemand aufgelauert und ihn überrumpelt hat, könnte er ihn erwürgt haben, bevor er die Möglichkeit hatte, zu schreien oder sich zu wehren.« Der Gedanke war tröstlich, aber ich betrachtete Godwyn noch immer mit Argwohn. Wusste er, dass Ned ihn mit Jenkes vor der Divinity School gesehen hatte?
    »Dann wäre er tot gewesen, bevor all das …« Der Rektor deutete auf das verstümmelte Gesicht des Jungen.
    »Das wollen wir hoffen«, murmelte ich, ehe ich mich erhob.
    »Aber Ned.« Godwyn blickte mit zusammengezogenen Brauen auf den Leichnam hinab, als ergäbe die Szene für ihn keinen Sinn. »Warum Ned?« Er schüttelte den Kopf.
    Mir fiel plötzlich etwas ein, das Ned mir im Laufe unserer verhängnisvollen Unterhaltung erzählt hatte. »Hatte Ned nur Pflichten hier in der Kapelle oder auch in der Bibliothek?«, erkundigte ich mich.
    Godwyn drehte sich um und musterte mich scharf. »Er hat mir manchmal ausgeholfen«, bekannte er zögernd. »Hat aufgeräumt
und sauber gemacht und dergleichen. Mit den Büchern hatte er nichts zu schaffen. Warum fragt Ihr?«
    »Master Godwyn, am Samstagabend, dem Abend, an dem James Coverdale ermordet wurde, waren Leute in der Bibliothek, während sich alle anderen bei der Disputation befanden«, gab ich zurück. »Ned hat sie gehört, wusste aber nicht, wer sie waren.«
    Godwyn nagte am Knöchel seines Daumens und betrachtete mich ängstlich.
    »Nun, wie ich Euch schon sagte, haben die Fellows alle ihren eigenen Schlüssel. Ich nehme an, es ist möglich, dass jemand früher zurückgekommen ist, aber ich wüsste nicht, wer. Oder …« Er warf dem Rektor einen verstohlenen Blick zu und ließ den Satz unbeendet im Raum verklingen.
    Ich erinnerte mich daran, dass er mir erzählt hatte, Sophia könne sich mit dem Schlüssel ihres Vaters Zutritt zur Bibliothek verschaffen. Ned hatte angegeben, eine zornige Männerstimme gehört zu haben, aber mit wem hatte der Mann gesprochen? Godwyn wirkte sichtlich nervös; ich konnte nicht umhin, mich zu fragen, ob Ned im Rahmen seiner Bibliotheksarbeit auf das Versteck illegaler katholischer Bücher des Bibliothekars gestoßen war.
    »Und Ihr?« Ich sah ihm fest in die Augen. »Ihr habt niemanden gesehen, als Ihr verfrüht zurückgekommen seid?«
    »Ich?« Godwyn wandte den Blick ab. Ein gekränkter Ausdruck trat in seine großen Augen. »Ich war bei der Disputation, Doktor Bruno.« Er scharrte unbehaglich mit den Füßen und verschränkte die Arme vor der Brust.
    »Aber ich hörte, Ihr wärt früher gegangen, um jemanden zu treffen?«
    Der Rektor blickte auf. Einen Moment wich der verzweifelte Ausdruck auf seinem Gesicht milder Überraschung. Godwyn lief hochrot an und versuchte nicht länger, an seiner Lüge festzuhalten.
    »Es stimmt, ich bin gleich zu Anfang gegangen, weil ich etwas Persönliches zu erledigen hatte«, gestand er mit gepresster
Stimme. »Es hatte nichts mit der Universität zu tun. Aber ich bin nicht vor sechs zurückgekommen und habe die Bibliothek leer und verschlossen vorgefunden, so, wie ich sie verlassen hatte. Das ist die Wahrheit, ich schwöre es bei Gott!«
    Ich betrachtete Godwyns ineinander verflochtene Hände – breite Hände mit Tintenflecken an den Fingerspitzen. Blutspuren konnte ich keine erkennen. Der Rektor blickte von mir zu Godwyn, als wisse er nicht mehr, was er glauben sollte.
    »Wartet, was ist das?« Am Fuß des Altars lag ein dunkler Haufen. Ich bückte mich, um ihn zu untersuchen. Er entpuppte sich als ein Stück zusammengefaltetes Tuch. Ich hob es mit Finger und Daumen behutsam hoch und stellte fest, dass es sich um das Gewand eines Studenten handelte. Die Ärmel waren ausgefranst, an ihnen klebte frisches Blut.
    »Dieselbe List wie zuvor.« Ich hielt das Gewand in die Höhe, um es dem Rektor zu zeigen. »Das muss Neds Robe sein. Der Mörder zieht die Gewänder seiner Opfer über seine eigenen, damit er sich hinterher entfernen kann, ohne durch Blutspuren aufzufallen.«
    Die Tür knarrte, und wir schraken alle drei zusammen. Slythursts Rattengesicht erschien in dem Spalt.
    »Die

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