Kind der Hölle
Arm.
Kim und Jared tauschten einen unbehaglichen Blick, bevor sie wie ihre Eltern die Fingerspitzen mit Weihwasser benetzten, dicht nebeneinander auf der vordersten Bank Platz nahmen und den geschlossenen Sarg betrachteten, der vor dem Altar stand.
Drei spärliche Blumengestecke und die leere Kirche legten beredtes Zeugnis davon ab, wie einsam Cora Conway im Sanatorium gewesen war. Während irgendwo im Hintergrund ein unsichtbarer Organist leise zu spielen begann, wünschte Janet seufzend, sie hätte die alte Frau häufiger besucht. Warum hatte sie angenommen, daß die Tante ihres Mannes in St. Albans gute Freunde hatte, die sie oft besuchten? Das war offensichtlich nicht der Fall gewesen, denn als der Priester aus der Sakristei hereinkam und ihnen unauffällig bedeutete, daß sie aufstehen sollten, warf Janet einen Blick über die Schulter und stellte fest, daß die Kirche nach wie vor so gut wie leer war.
Außer ihrer eigenen fünfköpfigen Familie und dem die Messe zelebrierenden Priester waren nur zwei weitere Personen anwesend.
Eine Frau mittleren Alters, die ein marineblaues Kostüm trug und ihr Gesicht verschleiert hatte, stand in der letzten Reihe und zerknüllte nervös ihre Handschuhe.
Und in einer Seitenkapelle erspähte Janet einen Priester. Wollte er Cora die letzte Ehre erweisen, oder hielt er nur eine Privatandacht ab und betete zu irgendeinem Heiligen, ohne sich um die Messe zu kümmern?
Der Priester beendete das Staffelgebet und erlaubte ihnen mit einer Geste, wieder Platz zu nehmen. Dann wandte er sich dem Sarg und dem Altar zu, breitete die Arme aus und sprach die ersten Worte. Janet war sehr überrascht, als sie die rhythmischen Kadenzen der lateinischen Messe hörte – zum erstenmal, seit sie als kleines Mädchen der Totenmesse für ihre Großmutter beigewohnt hatte.
»O Gott«, flüsterte Ted ihr ins Ohr, »wenn wir das gewußt hätten, wären wir bestimmt gar nicht erst hergekommen!«
Janet warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Cora muß sich diese lateinische Messe gewünscht haben, und uns tut es doch nicht weh.«
Ted verdrehte die Augen, und kurz darauf sank sein Kopf auf die Brust, und er schlief ein.
Erst eine Stunde später, als der Priester das Absolutionsgebet sprach, wachte Ted wieder auf. Kindheitserinnerungen veranlaßten ihn, rasch niederzuknien und sich zu bekreuzigen, bevor er an seiner Frau und seinen Kindern vorbeiging, um unwillig einem ausdrücklichen Wunsch seiner Tante nachzukommen.
Zusammen mit fünf Männern vom Bestattungsunternehmen, die leise durch eine Seitentür hereingekommen waren, sollte er den Sarg von der Kirche zum Grab tragen.
Der Priester schritt hinter dem Sarg her, ihm folgten die Zwillinge und Janet, die ihre schlafende kleine Tochter trug und im Vorbeigehen zu der Seitenkapelle hinüberschaute, wo sie zu Beginn des Totenamts den alten Priester gesehen hatte.
Er lag mit weit ausgebreiteten Armen auf dem Steinboden und schien die kleine Prozession, die an ihm vorbeikam, überhaupt nicht wahrzunehmen.
Janet blinzelte, als sie aus dem kühlen Halbdunkel der Kirche in die schwüle Hitze des Spätsommernachmittags trat. Während sie dem Sarg in den kleinen Friedhof folgte, der an die Kirche angrenzte, hatte sie das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Anfangs versuchte sie es zu ignorieren, indem sie sich sagte, daß jeder Vorübergehende natürlich wenigstens einen Blick auf die Trauergäste werfen oder sogar verweilen würde, um dem Begräbnis aus der Ferne beizuwohnen. Bald schaute sie sich jedoch verstohlen nach allen Seiten um. Doch bevor sie jemanden entdecken konnte, wurde ihre Aufmerksamkeit von der Inschrift auf einer angelaufenen Messingplatte an der Tür eines kleinen Grabmals gefesselt, das durch einen rostigen, schmiedeeisernen Zaun vom übrigen Friedhof abgetrennt war.
Wie war das möglich? fragte Janet sich. George Conway hatte doch Selbstmord begangen. Wie konnte er hier in geweihter Erde bestattet sein? Die Verwahrlosung in der näheren Umgebung des Grabmals brachte sie auf des Rätsels Lösung: Dieses Fleckchen Erde war nicht geweiht, und der Zaun diente nicht etwa zum Schutz der Grabstätte, sondern sollte sie vom übrigen Friedhof und von all den Toten, die im Zustand der Gnade verstorben waren, trennen.
Allem Anschein nach handelte es sich um eine Familiengruft, und Janet vermutete, daß es Georg Conways Wunsch gewesen war, daß seine Frau neben ihm zur letzten Ruhe gebettet würde.
Die kleine Prozession setzte
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