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Kinder des Monsuns

Kinder des Monsuns

Titel: Kinder des Monsuns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Jimenez
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oder Lösungsmittel, aus Müdigkeit oder Hunger oder aus mehreren dieser Gründe schlafen sie in der Kälte ein, bis man sie am nächsten Tag in derselben Position erfroren auffindet. Die Geschichte hinter Paulas Bildern packte mich, und wie ich von anderen Gelegenheiten wusste, würde sie mich von nun an nicht mehr loslassen, bis ich sie erzählen konnte.
    Zu meiner Überraschung werde ich am Flughafen von Ulan-Bator erwartet. »Sie haben Glück«, ruft mir ein schlaksiger junger |196| Mann mit gebeugtem Rücken in der Ankunftshalle des Flughafens zu und bietet mir an, mich für 10 Dollar zu meinem Hotel zu fahren. »Wir haben diese Woche sehr gutes Wetter.«
    Die Außentemperatur beträgt 17 Grad unter null, seit einigen Tagen schneit es jedoch nicht mehr. Chinzorig hat recht: Das ist gutes Wetter für die ungastlichste Hauptstadt der Welt. Chinzorig ist dieser alte Flughafen ans Herz gewachsen, auf dem die Flüge aufgrund der Schneefälle und der Pannen der Maschinen von Mongolian Airlines oft erst mit Tagen und sogar Wochen Verspätung starten können. Seine Eltern leben hier in der Nähe, und wenn er sie besucht, fährt er am Terminal der ankommenden Flüge vorbei, begrüßt ein paar alte Kollegen und sucht sich einen Kunden, um sich ein paar Dollar zu verdienen.
    Chinzorig hat einen Vorteil gegenüber anderen Taxifahrern. Er hat hier als Fluglotse gearbeitet und kennt die Flugpläne, weiß über Änderungen und alle Eventualitäten Bescheid. Er muss nur die Schneemenge auf den Straßen betrachten und die Windstärke abschätzen, um zu wissen, ob an diesem Tag eine Maschine abfliegen oder landen kann. Eines Tages hatte er die Nase voll davon, wie die Regierungsbeamten die Erlöse aus den Überflugrechten unter sich aufteilten, während er mit einem elenden Gehalt von 100 Dollar im Monat nach Hause ging, und nahm seinen Hut. Er war kaum älter als zwanzig und hatte einen Arbeitsplatz, um den ihn jeder beneidet hätte, doch im Kontrolltower fühlte er sich wie ein eingesperrtes Rennpferd.
    »Und was willst du jetzt anstellen?«, fragte ihn sein Chef, überzeugt, dass es in einem kaputten Land wie der Mongolei nur ein Verrückter wagt, die Sicherheit eines staatlichen Gehaltes aufzugeben.
    »Eine Menge«, erwiderte Chinzorig.
    Er kaufte sich von seinem Ersparten einen Gebrauchtwagen, wurde Taxifahrer und Fremdenführer.
    Chinzorig bietet mir an, mich zu den Kanalkindern zu bringen. »Tagsüber arbeiten sie im Bahnhof«, erklärt er. Als wir ankommen, |197| stehen Dutzende kleiner Gepäckträger mit ihren improvisierten hölzernen Gepäckkarren auf dem Bahnsteig bereit und warten begierig darauf, das Gepäck der frisch eingetroffenen Fahrgäste zu übernehmen. Die größeren Jungen haben einen Vorteil, weil sie den Kopf über die Schultern der anderern recken können und so schon vorher sehen, wo ein vielversprechender Reisender aus dem Waggon steigt. Den Kleineren kommt ihre Behändigkeit zupass, mit der sie ihre Karren durch die Menge steuern. Alle wollen als Erste zu den ausländischen Touristen gelangen, von denen gemunkelt wird, dass sie aus Ländern ohne Kälte, ohne Winter und ohne Schnee kommen, wo sie in großen Häusern leben und Autos mit sechs Rädern fahren. Und natürlich haben sie auch so viel Geld, dass sie einen Dollar Trinkgeld leicht verschmerzen können.
    Die Transmongolische Eisenbahn trifft an diesem Morgen aus Moskau ein, bevor sie nach Peking weiterfährt. Dabei lässt sie die Wüste Gobi zu einer Seite hinter sich und schlängelt sich durch eben jene Berge, Täler und Wüsten, die Dschingis Khan 1214 auf seinem Zug vor die Tore von Zhongdu kampflos durchschritt: Der chinesische Kaiser Xuanzong, der die Wildheit von Dschingis Khans Kriegern kannte, besänftigte die Eindringlinge mit Wagenladungen voller Schätze und einer schönen Prinzessin, die sich mit Hunderten von Dienern in das Heer der Bräute des Eroberers einreihte. Dieser bedankte sich für die Liebenswürdigkeit drei Jahre später, indem er Zhongdu völlig dem Erdboden gleichmachte. Ein Augenzeuge der Zerstörung von Buchara fasste in einem Satz besser als jeder andere zusammen, wie Dschingis Khan und seine Männer den Krieg verstanden: »Sie kamen, siegten, brandschatzten, betranken sich, plünderten und zogen ab.«
    Die mongolischen Krieger eroberten im 13. Jahrhundert zuerst unter Dschingis Khan, dem »ozeanischen« Herrscher über die Steppe, später unter seinen Nachkömmlingen alles, was ihnen in den Weg kam, plünderten und

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