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Kinder des Monsuns

Kinder des Monsuns

Titel: Kinder des Monsuns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Jimenez
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verloren ihre Stellen im Staatsdienst, Tausende wurden aus den staatlichen Wohnungen ausgewiesen, und die Subventionen aus Moskau, die ein Drittel der Volkswirtschaft ausmachten, wurden eingestellt. Die Transmongolische Eisenbahn kam nicht mehr beladen mit den Funktionären der sowjetischen Regierung, Viehzucht und Industrie erlebten einen Niedergang, und das Fundament der Gesellschaft, die Familie, wurde brüchig. Bald wurden die ersten Kinder ausgesetzt oder flüchteten aus Familien, die von Elend, Alkohol und Gewalt gespalten waren.
    Die Eltern von Tapferer Held, Nomaden aus der Region von Dornogow, standen vor dem Ruin und beschlossen, eines ihrer vier Kinder auszusetzen, um die anderen weiter ernähren zu können. Sie nahmen einen Zug bis Ulan-Bator, gaben ihm im Bahnhof eine Tasche mit Verpflegung, eine Mütze und einen Mantel und trugen ihm auf, auf ihre Rückkehr zu warten. Da war er sieben Jahre alt. Danach lebte Tapferer Held zwei Jahre in demselben Zugwaggon, in dem er in die Stadt gekommen war, fuhr ein ums andere Mal die Strecke hin und her, die er mit den Eltern gekommen war, und wartete auf den Bahnsteigen darauf, von ihnen abgeholt zu werden. Er überlebte dank des Essens, das ihm die Bahnbediensteten gaben, bis ihn eines Tages die anderen Kinder auf dem Bahnsteig fragten, auf wen er warte.
    »Auf meinen Vater«, sagte Tapferer Held.
    |203| »Der kommt nicht mehr«, antworteten sie ihm.
    Da schloss er sich der Bande an und gehört bis heute zu ihr.
    Während er seine Geschichte erzählt, bemüht sich Tapferer Held, vor den anderen nicht zu weinen. Er, der respektiert und manchmal gefürchtet wird, der Herr der Schächte, darf keine Schwäche zeigen. Mongolen werden von Kindesbeinen an erzogen, keine Gefühle zu zeigen, nicht einmal in der Familie. Der mongolische Mann weint nicht. Niemals. Tapferer Held hat nun eine Verlobte. Sie heißt Fülle und ist ein junges Straßenmädchen von etwa 14 Jahren, die wie die übrigen an den Bushaltestellen, wo sich die beiden kennen gelernt haben, auf den Strich geht. An den kältesten Wintertagen gehen die beiden Verliebten in den Schacht, ziehen sich aus und lieben sich in einer Ecke ihres Schlupfwinkels, in die kein Licht dringt, auf den heißen Röhren, immer darauf bedacht, nicht in das morastige Wasser zu fallen.
    Vor zwei Jahren haben sie »geheiratet«, das heißt sie haben die Zeremonien nachgeahmt, die alle Tage im Hochzeitspalast am Nairamdal-Park stattfinden. Im Lichtschein von einem Dutzend Kerzen versprach Tapferer Held, für immer bei Fülle zu bleiben. Die beiden haben Syphilis und bitten mich, ihnen ein Medikament aus der Apotheke zu kaufen. Als ich mit etwas Penicillin zurückkomme, das einzige, was ich auftreiben konnte, errötet Tapferer Held und erklärt, dass er nicht auf den Strich gehe, sondern die Krankheit von Fülle habe. Sie nickt mit dem Kopf. Der Herr der Schächte hat hier unten einen Ruf zu verteidigen.
    Auf einer der Röhren sitzend, erklären mir Ewige Schönheit, Soso, Tapferer Held und die anderen Jungs das Leben unter der Erde. Es handelt sich nicht nur um eine Zuflucht, sondern um eine Parallelwelt. Das Leben hier unten hat eigene Regeln, die sie gut kennen und die nicht immer, aber häufig besser sind als die oben auf der Straße. In dieser Welt dreht sich alles um die Treue zur Bande, ihrer einzigen Familie, um gegenseitige Überlebenshilfe und Solidarität, indem man das Wenige, was man hat, untereinander teilt. Mögen diese Prinzipien in der Erwachsenenwelt in |204| Vergessenheit geraten sein, hier unten könnte man ohne sie unmöglich überleben.
    Die Straßenkinder von Ulan-Bator hätten wie die vielen anderen in Brasilien, Südafrika oder auf den Philippinen werden können, doch die Kälte hat sie geprägt, der Überlebensinstinkt trieb sie in die Schächte, und hier, weit weg von den Erwachsenen, haben sie eine eigene Gesellschaft gegründet. Die dort oben haben vergessen, dass es sie gibt, und ihnen ist es lieber so, denn sie wissen, dass sie wie Ratten leben. Solange sie sich nicht blicken lassen, belästigt sie niemand.
    In einem mongolischen Märchen ist von drei Welten die Rede, dem Firmament, dessen Reich vom Ewigen Blauen Himmel regiert wird, der Zwischenwelt, wo die Menschen leben, und der Unterwelt, wo die Geister ihre Wohnstatt haben. Die Kanalkinder haben die dritte Welt zu ihrem Heim gemacht und leben unter der Erde wie echte Nomaden, wechseln jede Saison das Nest und leben von dem, was ihnen die Erde gibt,

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