Kinder des Monsuns
in ihrem Fall von ihren Abfällen. Sie kämpfen um ihr Territorium und erobern das der Schwächsten.
»Wir sind Kanalnomaden, Nomaden wie Dschingis Khan«, brüstet sich Tapferer Held.
»Ja, Nomaden sind wir«, bekräftigt Wahrer Held mit einem Lachen.
Ewige Schönheit und die anderen schlafen. Obwohl der Schachtdeckel in der richtigen Position liegt, die Soso ihm gezeigt hat, und der Einstieg weder zu weit offen noch zu weit geschlossen ist, bemerkt niemand, dass jemand gekommen ist. Eine Bande von Kanalkindern muss mit vier Arten von Besuchern rechnen, und unter diesen gibt nur einer Anlass zur Freude: Pater Gilbert. Die Religion ist erst vor einigen Jahren in die Mongolei zurückgekehrt, nach dem Fall des Sowjetregimes. Die Russen hatten die meisten buddhistischen Tempel zerstört und sie durch gleichförmige Wohnblocks, Büros der Kommunistischen Partei oder Fabriken ersetzt. Tausende Mönche wurden aus den Klöstern ausgewiesen und gezwungen, ein säkulares Leben zu führen, wozu die Pflicht |205| gehörte, Hosen zu tragen. In einer politischen Säuberungswelle 1936 wurden 17 000 Lamas hingerichtet. Für den Buddhismus, eine der spirituellen Antriebskräfte Asiens, war dieses Massaker erst der Anfang eines schlimmen Jahrhunderts. Die kommunistische Repression brachte den Tempeln des Mitgefühls allenthalben den Tod, im chinesisch besetzten Tibet wie in der sowjetischen Mongolei.
Die Ankunft der Demokratie brachte eine Atempause und erlaubte es den Mönchen, die überlebt hatten, in die wenigen Tempel zurückzukehren, die nicht zerstört worden waren, nur um zu entdecken, dass ihnen andere Glaubensgemeinschaften ernste Konkurrenz machten. Dem Fall des Kommunismus folgten Dutzende von christlichen Missionen auf dem Fuße, die in das Glaubensvakuum stießen, das die Sowjets hinterlassen hatten. Auf den Straßen von Ulan-Bator entwickelte sich ein reges Treiben westlicher Missionare, es kamen Mormonen, die Adventisten des Siebten Tages und Baptisten, alle mit der Idee, den Mongolen einen Gott zu bringen, der ihnen in diesen unruhigen Zeiten Halt geben konnte. Der Vatikan zögerte nicht, diplomatische Beziehungen zur Mongolei aufzunehmen, und schickte ebenfalls Missionare in das Land. Der philippinische Pater Gilbert von der katholischen Mission der Unbefleckten Jungfrau war einer der Auserwählten.
Kaum an seiner neuen Wirkungsstätte angekommen, ging der junge Geistliche auf Distanz zu den Bemühungen seiner Glaubensbrüder, die Bevölkerung zu bekehren und aus dem »religiösen Frühling«, den das Land erlebte, einen Wettstreit zwischen Christen und Buddhisten zu machen. Pater Gilbert war von anderem Schlag: Er war Teil jener neuen Generation von Missionaren, für die das Ziel der Bekehrung erst an zweiter Stelle kam und zuweilen ganz aus dem Blickfeld geriet. Lieber wollten sie ihre Kräfte in praktische Hilfe investieren. Seit seiner Ankunft 1993 hat es sich der Ordensbruder zur Hauptaufgabe gemacht, den Menschen von Ulan-Bator zu helfen, und ihnen nur dann, wenn sie danach fragen, von dem Gott zu erzählen, der ihm die Kraft für seine Arbeit |206| gibt. Statt mit finanzieller Unterstützung aus Rom große Feste und Versammlungen zu veranstalten wie die anderen Glaubensgemeinschaften, um neue Gläubige zu gewinnen, baute der Geistliche aus den Tropen in der Nähe der Bahntrasse im Bezirk Bayangol eine Zuflucht für Kinder auf. Mit den Jahren wurde Pater Gilberts Haus zu einem Aushängeschild in einer niedergedrückten Stadt, ein Funken Hoffnung für die Kinder von Ulan-Bator.
So macht sich der Pater jeden Mittwoch auf, steigt in seinen Kleintransporter und fährt die Schächte des Fernwärmenetzes ab, um heißen Tee und Kekse zu verteilen, bietet den Kindern, die es wünschen, Unterkunft an und erkundigt sich, wo der Schuh drückt, ob sie krank sind oder seelische Nöte haben, denn gegen beides hat er Medizin anzubieten. In seinem Verbist Care Center gibt es saubere Betten, Warmwasser und eine Gruppe von Freiwilligen, die sich darum bemühen, dass sich die Kinder, und sei es nur für eine Weile, zu Hause fühlen.
Das Problem ist, dass Ewige Schönheit sein Zuhause unter der Erde gefunden hat. Wer länger als sechs Monate auf der Straße lebt, weiß Pater Gilbert, ist nur noch schwer zurückzugewinnen, daher widmet er seine Kraft vor allem den Jüngsten und frischesten Neuzugängen. »Sie kommen und machen mir alles kaputt, sie sind verwildert«, protestiert er in seiner väterlichen Art, wenn ihm ein
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