Kinder des Monsuns
Halbstarker im Kinderheim wieder einmal einen üblen Streich gespielt hat. Ewige Schönheit erinnert sich, dass auch er einmal in Pater Gilberts Heim war, aber aus einem Fenster flüchtete. Er war unfähig, die Regeln zu befolgen, in weißer Bettwäsche zu schlafen und von Geschirr zu essen. Er hat etwas von Mogli, dem kleinen Jungen, der in Kiplings
Dschungelbuch
in Indien unter Wölfen aufwächst. Und trotzdem: Wie sehr hätte er sich jetzt gewünscht, dass es der philippinische Geistliche wäre, der lebende Beweis, dass es Länder ohne Winter gibt, der mitten in der Nacht den Schachtdeckel beiseite schiebt.
Doch es ist nicht Mittwoch.
Wenn es nicht der Tag der Kekse und des Tees ist, kann es sich |207| nur um einen der anderen drei Besucher handeln, mit denen die Kinder unter der Erde rechnen müssen, und jeden von diesen müssen sie fürchten. Da sind die rivalisierenden Banden, die Streit suchen, doch ihr Schacht ist bescheiden und stellt für eine größere Gruppe kaum ein lohnendes Ziel dar, noch dazu kurz vor Winterende. Es kann sich auch um eine Bande von Kindern aus gutem Hause handeln, die sich ab und zu einen Spaß daraus machen, Straßenkinder zu schlagen und zu drangsalieren. »Manchmal träume ich, dass sie die Schächte verschließen und wir für immer hier unten gefangen bleiben«, gesteht Ewige Schönheit. »Ich habe Angst vor ihnen.«
Schließlich könnte es sich bei dem Besuch um die Polizei handeln, und diese Möglichkeit jagt den Kindern am meisten Angst ein. Nie höre ich, dass sich die Kinder über die Ratten beklagen, mit denen sie ihre Schlupfwinkel teilen müssen, über den Schmutz oder die Feuchtigkeit. Ihre Sorgen sind die Dunkelheit, der Hunger und vor allem die Angst. Und die größte Angst verbreitet mit Abstand die Polizei.
*
Der Beamte brüllt durch das Einstiegsloch den Befehl, dass die Kinder herauskommen sollen. Ein Mitglied der Bande nach dem anderen steigt in den Polizeitransporter. Es ist Razzianacht, und Dutzende zerlumpter Kinder landen in den Gefängniszellen. Sie werden gewöhnlich bis zum nächsten Morgen festgehalten, und in der Nacht kann auf dem Kommissariat alles geschehen. Üblich ist, dass sie mit Schlägen abgeschreckt, nackt ausgezogen und erniedrigt werden, bevor sie mit der Ermahnung entlassen werden, sich so bald nicht wieder auf der Straße blicken zu lassen. Manchmal sind die Prügel so schwer, dass die Kinder wochenlang nicht mehr aus dem Schacht steigen können. Einige Kinder verschwinden für immer im Polizeigewahrsam. Die Mädchen werden systematisch vergewaltigt und kehren gedemütigt in den Schacht zurück, wie |208| an den Tagen, wenn die Freier an den Bushaltestellen nicht zahlen, tief verletzt, weil man ihnen das Einzige geraubt hat, das ihnen geblieben war, jene Würde, die an den Orten der Hoffnungslosigkeit ebenfalls zum Verkauf steht. Bei den Razzien müssen sie ihre Freiheit erkaufen.
Die »Säuberungsaktionen« finden zwei- bis dreimal im Jahr statt. In den Tagen nach den Schlägen gibt es Alkohol und Klebstoff für alle, wie bei Feiern und zu Sylvester. Einer nach dem anderen reichen die Mitglieder der Bande von Ewige Schönheit die Klebstoffflasche herum, halten sie vor die Nase und saugen mit geschlossenen Augen und gerunzelter Stirn die Dämpfe tief ein. Am Anfang fühlen sie sich, als würde ihnen ein Wurm in den Kopf kriechen, das Hirn durcheinanderwirbeln und es zerfressen. »Kameljagd! Kameljagd!«, ruft Tapferer Held. Alle lachen und springen in das morastige Wasser, spielen und tanzen. Ein kräftiger Schluck Wodka lässt den Wurm verschwinden, das Hirn erschlafft und verwandelt sich in eine sanfte, flaumweiche Wolke.
Soso, Tapferer Held, Wahrer Held, Allzeit Stark und Kostbare Zier können auf diese Weise das triste Ulan-Bator auf Abstand bringen, in die Steppen fliegen, lachen, weinen und halluzinieren, sich im Geist aus ihrem Leben in ein anderes, besseres versetzen, sich berauschen, bis sie das Bewusstsein verlieren und von den Sängern und Schauspielerinnen in den Zeitschriften träumen, die sie im Abfall finden und an die Wände ihrer Unterwelt heften, ein Beweis, dass es unter den Straßen von Ulan-Bator, in der Dritten Welt der Mongolei, ebenfalls ein Leben gibt.
Der Einzige, dem es bei solchen Umtrünken nicht gelingt, in eine bessere Welt aufzubrechen, ist Ewige Schönheit. Er wirkt immer wie ein verschrecktes Kind, ängstlich und introvertiert. Häufig muss man ihm jedes Worte aus der Nase ziehen, dann wieder sprudelt
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